TAGUNGEN

80. Tagung für Naturheilkunde des Heilpraktikerverband Bayern

Individuelle Geriatrie – der alte Mensch in naturheilkundlicher Behandlung

Berufs- und gesundheitspolitisches Einführungsreferat

von Ursula Hilpert-Mühlig

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

„Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern“ – ein Buch, mehr als 200 Jahre alt und doch von ungebrochener Aktualität. Der Autor ist kein geringerer als Christoph Wilhelm Hufeland, einer der bedeutendsten Ärzte seiner Zeit; erster Direktor der Charité in Berlin, königlicher Leibarzt und Leibarzt der Dichterfürsten Goethe, Schiller, Herder und Wieland. In über 400 Schriften hat er uns medizinische und sozialethische Werke hinterlassen, die in ihrer Weitsicht auch heute noch ihre Gültigkeit haben.

Er vertrat das Konzept von der Lebenskraft, also von der Fähigkeit der menschlichen Natur zu einem gesunden, harmonischen Zusammenwirken in all ihren Teilen. Daraus resultierend befasste er sich intensiv mit der Heilkraft der Natur, deren praktische Umsetzung er entscheidend mitgeprägt hat.

Diese Kunst zur Verlängerung des menschlichen Lebens nannte Hufeland Macrobiotic (ein Konzept der konstitutionellen Gesundheitsfürsorge; nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen rigiden Ernährungslehre). Und er grenzte sie deutlich von der klassischen Medizin ab. Ich möchte Hufeland deshalb hier direkt zitieren:

Man dürfe – so schrieb er –

„diese Kunst nicht mit der gewöhnlichen Medizin oder medizinischen Diätetik verwechseln, sie hat andre Zwecke, andre Mittel, andre Grenzen.
Der Zweck der Medizin ist Gesundheit, der Macrobiotic hingegen langes Leben.
Die Mittel der Medizin sind nur auf den gegenwärtigen Zustand und dessen Veränderung berechnet, die der Macrobiotic aber aufs Ganze.
Dort ist es genug, wenn man im Stande ist, die verlorne Gesundheit wieder herzustellen, aber man fragt dabei nicht, ob durch die Art, wie man die Gesundheit wieder herstellt, das Leben im Ganzen verlängert oder verkürzt wird, welches letztere bei manchen Methoden der Medizin der Fall ist. Die Medizin muss jede Krankheit als ein Übel ansehen, das nicht bald genug weggeschafft werden kann; die Macrobiotic zeigt, dass manche Krankheiten Verlängerungsmittel des Lebens werden können.
Die Medizin sucht, durch stärkende und andere Mittel, jeden Menschen auf den höchsten Grad seiner physischen Vollkommenheit und Stärke zu erheben; die Macrobiotic aber zeigt, dass es auch hier ein Maximum gibt, und dass ein zu weit getriebener Grad von Stärkung das Mittel werden kann, das Leben zu beschleunigen und folglich zu verkürzen.“

Betrachten Sie dieses Zitat bitte nicht als polemischen Seitenhieb gegen die Schulmedizin unserer Tage. Aber Hufeland war nicht nur Leibarzt der hervorragendsten Klassiker der deutschen Literatur, er muss selbst auch als ein ähnlich bedeutender Klassiker der Medizin gewertet werden.
Und wie die Werke von Goethe und Schiller ihre zeitlose Bedeutung in immer neuen Interpretationen bewahrt haben, so bedürfen auch die Werke Hufelands ihrer angemessenen aktuellen Auslegung – zu der wir Heilpraktiker uns in durchaus selbstreflektorischer Absicht bekennen möchten.

Jedenfalls sagen uns die besten Erfahrungen der Heilkundigen früherer Zeiten oft mehr als die heute zum Inbegriff der medizinischen Wissenschaft erklärten Doppelblindstudien.
Sie sollen uns glauben machen, dass die beste und objektivste Form der wissenschaftlichen Erkenntnis zu erreichen sei, indem die an der Forschung beteiligten Ärzte selbst nicht wissen sollen, was sie da eigentlich machen.

Das gilt nicht zuletzt für unser Tagungsmotto

Individuelle Geriatrie – der alte Mensch in naturheilkundlicher Behandlung.

Es gehört zu den Grundeinsichten des Alltags, dass die Leistungsfähigkeit des Menschen mit zunehmendem Alter insgesamt und die seiner jeweiligen Organsysteme in Sonderheit nachlassen; dass sie biologischen Wandlungsprozessen unterliegen.

Aber fragwürdig wird es, wenn man eher naturgegebene Erscheinungen wie Hormonabbau, abnehmende Knochendichte, Elastizitätsverlust von Herz und Gefäßen, veränderte Schlafmuster und andere Beschwerden bis hin zur nachlassenden Seh- und Hörfähigkeit zu den Krankheiten zählt; also dass man mit diesen physiologisch erklärbaren Alterserscheinungen nicht mehr „gesund“ sei.

Dem liegt offenbar eine unbewusste sprachliche Konvention zu Grunde, die Dr. Herbert Fritsche – verehrter Lehrer an unserer Heilpraktiker-Fachschule (der in diesem Jahr 100 Jahre geworden wäre), in seinem Buch über „Die unbekannten Gesundheiten“ aufzeigt:

„Das Wort Gesundheit pflegt in der Einzahl gebraucht zu werden.

Laien und Berufs-Therapeuten sprechen nicht in der Plural-Form von Gesundheiten, sondern verhalten sich so, als gebe es die Gesundheit: eine gültige Norm, die man ‘hat’ oder zu der man, wenn man erkrankt, mit therapeutischer Hilfe hinzusteuern sei.
Erkrankt man nun, so leidet man – darin ist man sich in sprachlicher Hinsicht (mithin auch im Denkstil) weithin einig – an einer Krankheit unter vielen.
Den Singular ‘die Gesundheit’ betrachtet man als bedroht durch einen Plural von Krankheiten.
Der Systematisierung dieses Plurals dient die Diagnostik, die den Therapeuten befähigen soll, die eine Krankheit unter vielen, an der sein jeweiliger Patient leidet, möglichst so präzis zu bestimmen, wie ein Biologe eine Pflanzen- oder Tierart zu bestimmen pflegt.“

Wie weitsichtig Fritsche gedacht hat, beweist ein Trend in der gegenwärtigen medizinischen Forschung, im Erbgut der Menschen jene Gene zu identifizieren, die vorzugsweise den am weitesten verbreiteten Krankheiten zugeordnet werden können, etwa Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Adipositas, und eben auch Gensequenzen gesucht werden, die Altersgebrechlichkeiten bedingen.

Als Heilpraktiker lassen wir uns von solchen Forschungen vielleicht nicht so sehr faszinieren wie andere, aber wir anerkennen vorbehaltlos die wissenschaftlichen Leistungen solcher Projekte; wenngleich diese vornehmlich auf Hochleistungsmaschinen übertragen werden und die individuelle medizinische, am jeweils einzelnen Menschen ausgerichtete Umsetzbarkeit in den Hintergrund drängen.

Zu den drohenden „Alterskrankheiten“, die in solchen Zusammenhängen und immer dann genannt werden, wenn es gilt, Forschungsgelder zu generieren, zählen regelmäßig Alzheimer, Parkinson und Demenz. So war es auch, als kürzlich der Europäische Gerichtshof entschied, dass embryonale Stammzellen nicht patentiert werden dürfen. Der in diesem Verfahren unterlegene Neurobiologe – dessen bisheriges Patent damit für nichtig erklärt wurde – beklagte die Entscheidung, weil durch das Patentierungsverbot die Entwicklung neuer Arzneimittel „gegen Alzheimer und Parkinson“ verhindert werde.

Dies offenbart einen eklatant arzneimittel-zentrierten Denkansatz, den wir uns als Heilpraktiker keineswegs zu Eigen machen können. Und es unterstellt implizit, dass die Entwicklung neuer Arzneimittel nur dann noch stattfinden könne, wenn die Produkte auch patentrechtlich monopolisiert werden können.

Nicht unerwähnt will ich lassen, dass es längst auch ein Konzept gibt, das das Altern generell als Krankheit propagiert. Dies wird vor allem von dem amerikanischen Harvard-Professor David Sinclair vertreten – der zugleich auch Mitbegründer eines US-Pharmaunternehmens ist.

Altern sei – so sagt er – „eine der tödlichsten Krankheiten auf diesem Planeten“ und das „sollte uns anspornen, etwas zu tun“. „Wir“ – und damit meint er wohl Menschen seines Alters – „sind wahrscheinlich die letzte Generation mit einer normalen Lebenserwartung von 80 bis 85 Jahren.

Allerdings – so fügte er dieser gewagten Vision an – „glaube ich nicht, dass wir unsterblich sein werden.“ Der Prozess des Alterns habe viele Ursachen, aber man müsste keinesfalls bis ins letzte Detail wissen, wie diese Mechanismen „funktionieren“. Indes „kennen wir nun einige Gene, die Alterungsprozesse regulieren und können sie ins Visier nehmen“.

Er selbst entwickle ein Arzneimittel, das Enzyme „aktiver“ mache und als „Wächter der Zellen“ seine Wirksamkeit entfalte; dies sei schon in etlichen Mausmodellen mit gängigen Krankheiten erprobt und er wolle damit auch die Krankheit „Altern“ behandeln.

Meine verehrten Damen und Herren,

zu altern ist eine biologisch bedingte Dimension des menschlichen Lebens, und diese wird hier explizit einer Wertung unterzogen. Da sei die Frage erlaubt, welches Altersbild, ja welches Menschenbild einer solchen Forschung zugrunde liegt?
Ist der Mensch im Alter nicht mehr gut genug? Wie muss er sein, um zufriedenzustellen und wer hat das Recht zur Beurteilung?
Die Idee der biologischen Optimierbarkeit des Menschen ist nicht mehr nur die Fiktion eines einzelnen, vom Rausch des technisch Machbaren befallenen Forschers. Längst haben die Möglichkeiten der aktuellen Genforschung und vor allem auch der modernen Pharmakologie Begehrlichkeiten geweckt, selbst gestaltend auf das Leben und seine Funktionen einzuwirken.

Und dass solche Bestrebungen nicht neu sind, zeigt ein Blick in das eingangs aufgeführte Zitat, in dem Hufeland bereits zu seiner Zeit die Fixierung der Medizin auf das Machbare anprangert ...und sie dabei nicht hinterfrage, ob durch die Art, wie sie eingreift, das Leben nicht in seiner Gänze verändert wird...

Der Respekt vor der Einzigartigkeit eines jeden Menschen und den naturgegebenen Lebensabläufen prägen unser Berufsverständnis und sind Grundlagen unseres heilkundlichen Handelns. Somit lehnen wir jede Manipulierung menschlichen Erbgutes entschieden ab, und stehen auch Eingriffen an pflanzlichem und tierischem Erbmaterial außerordentlich kritisch gegenüber.
Indes würden wir es begrüßen, wenn Forschungsschwerpunkte auch im Bereich der sogenannten Alterskrankheiten auf deren Prävention konzentriert würden.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf Forschungen von Emil Kraepelin, ehemaliger Professor für Psychiatrie an der Universität München, hinweisen, der Anfang der 1920 Jahre die Vermutung äußerte, dass frühzeitige Demenz auf einer „Vergiftung des Gehirns beruhen könnte, verursacht von Toxinen, die in anderen Teilen des Körpers produziert worden sein könnten, namentlich den Sexualdrüsen, dem Darm oder dem Mund“.

Und im Jahre 2005 machten Forscher der University of Birmingham darauf aufmerksam, dass die Parkinson’sche Krankheit die erste bekannte neurologische Krankheit sein könnte, die auf Autointoxikation (also Selbstvergiftung) beruht. Die Autoren meinten, dass man u.a. mit einer veränderten Diät einen neuen Weg beschreiten könnte, um eine Prävention dieser Erkrankung zu versuchen.

Ich möchte keineswegs versäumen, darauf hinzuweisen, dass dies mit unseren naturheilkundlichen Konzepten der Entgiftung, der Darmreinigung und –sanierung sowie einer an die jeweilige Stoffwechsellage angepassten Diätetik korrespondiert, mit der die Pharmaindustrie allerdings keine Geschäfte machen kann.

Auch wenn wir die Genforschung zu bestimmten Krankheiten als beachtliche wissenschaftliche Leistungen respektieren, müssen wir uns die Frage stellen, was solche Erkenntnis für die Praxis der Behandlung und – wahrscheinlich mehr noch – für die Prävention bedeutet.

Und da sehe ich vor allem eine Bestätigung des von uns Heilpraktikern viel beachteten Konzepts der erblichen Veranlagungen – also der Konstitutionen, Dispositionen und Diathesen –, das von überzeugten Schulmedizinern bestenfalls mitleidig belächelt wird. Diese, schon von den griechischen Medizinklassikern gebrauchten Begriffe stehen für eine individuelle Krankheitsbereitschaft, aber nicht schon für eine Krankheit selbst. Sie werden also den Gesundheiten zugeordnet, wie auch Fritsche das in seinem schon erwähnten Buch tut:

„Wobei“ – so schrieb er – „die jeweils individuelle Gesundheitsdiagnose in der Regel wichtiger sei als die Diagnose der Krankheit, weil es Ziel aller Behandlungen sein müsse, diese jeweils individuelle Gesundheit des Patienten wieder herzustellen.“

Daraus ersehen wir, dass die Kunst das Leben zu verlängern (im Hufelandschen Sinne) eine Aufgabe der Heilkundigen ist, die nicht erst mit dem Eintritt ins Rentenalter einsetzen darf, sondern bereits im frühen Lebensalter nach weitgehend bekannten Regeln zur Gesunderhaltung.

Die genetische Prägung kann dabei nur einer der – inneren – Faktoren sein, zu denen auch äußere hinzukommen müssen, um bestimmte Krankheiten zu induzieren.

Die Beachtung solcher Gesundheitsregeln ist dabei kein stringentes Erfolgsrezept, aber sie erhöht die Wahrscheinlichkeit in guter Gesundheit ein hohes Alter zu erreichen. Vor allem, wenn man dabei die individuellen Prädispositionen berücksichtigt und nicht a priori die eine, medizinisch normierte Gesundheit angestrebt wird.

Viele jener Krankheiten, die vornehmlich im Alter auftreten, haben eine oft jahrelange Vorlaufzeit und werden somit aus früheren Lebensabschnitten ins Rentenalter mitgeschleppt. Verbunden mit alterstypischen Abbauprozessen führen sie nicht selten zu Multimorbidität. Das Leben ist dann mit vielerlei Beschwernissen verbunden, deren Bewältigung – tatsächlich oder vermeintlich – nur mit medizinischen Interventionen möglich scheint. Und hier führen die ausschließlich symptomenbezogenen, schulmedizinischen Behandlungskonzepte in eine unheilvolle Entwicklung: sie bewirken mit rapide fortschreitender Tendenz eine nahezu grenzenlose Polypharmazie.

Nicht selten erreicht solche ärztlich verordnete Vielmedikation die Zahl von mehr als ein Dutzend verschiedener Medikamente, deren Verordnungen von den Patienten kaum noch überblickt – und damit eingehalten – werden können, geschweige denn die vielfältigen Neben- und Wechselwirkungen abzuschätzen sind.

Diese Polymedikation hat inzwischen selbst Krankheitswert erreicht, mit einer Vielgestaltigkeit an Beschwerden, nicht selten mit bedrohlichen Auswirkungen; die Klinikeinweisungen solcher ambulant nicht mehr beherrschbarer Schädigungen nehmen in erschreckender Weise zu.

Und auch darüber ist schon bei Hufeland zu lesen, dass ….ein zu weit getriebener Grad an Medizin – auch in bester Absicht – durchaus dazu geeignet ist, das Leben zu verkürzen…

Solche medikamentenbelastete Patienten in ihrer alleingelassenen Ratlosigkeit suchen zunehmend auch Hilfe in unseren Heilpraktiker-Naturheilpraxen. Und ich kann nicht verschweigen, dass uns gerade solche Patienten, deren Beschwerden weder in einem schulmedizinischen noch in einem „alternativen“ Lehrbuch verzeichnet sind, vor schwierige Probleme stellen; auch mit einem hohen persönlichen Haftungsrisiko, sollten wir die ärztlich verordneten synthetischen Arzneimittel einfach nur absetzen wollen. Hier müssen dringend Modelle einer gleichberechtigten Zusammenarbeit zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde entwickelt werden. Und hier ist insbesondere auch die Politik gefordert, eine für beide „Seiten“ umsetzbare und tragfähige Kooperation zu unterstützen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

in der gebotenen Kürze eines Übersichtsreferates konnte ich nur einen begrenzten, vorwiegend medizinischen Umgang mit dem Thema Alter und Altern ansprechen.

Geriatrie muss aber weit über eine rein medizinische, vor allem medikamentöse Versorgung hinausgehen, will sie dem Lebensabschnitt „Alter“ human – im wahrsten Sinne des Wortes – menschlich begegnen. Sie muss auch an der Gestaltung angemessener sozialer Bedingungen mitwirken, und sie muss eine ganzheitliche Pflege derjenigen Alten mit einem hohen Grad an Gebrechlichkeit gewährleisten. Und ganzheitlich meint eine psycho-somatische Pflege, und nicht eine, die sich nur in „satt und sauber“ erschöpft.

Auch diese Einsicht hatte Hufeland schon vor mehr als 200 Jahren gewonnen, als er schrieb, er habe bei seiner Arbeit zur Macrobiotic „mehr als je empfunden, dass sich der Mensch und sein höherer moralischer Zweck auch physisch schlechterdings nicht trennen lassen“ und dass der „Wert der moralischen Gesetze . . . auch zur physischen Erhaltung und Verlängerung des Lebens“ unentbehrlich sei.

Wir Heilpraktiker fühlen uns dieser ethischen Haltung zutiefst verpflichtet.



weiter ... (für Abonnenten der Naturheilpraxis)


Zum Inhaltsverzeichnis

Naturheilpraxis 12/2011