Schmerzen

Wesen und Bedeutung des Schmerzes

Eine historische Betrachtung und das biopsychosoziale Krankheitskonzept

Wolfgang Weigl

Was ist der Schmerz? Die Grundauffassung in Antike und Mittelalter lässt sich an drei Konsequenzen erläutern2: 1.) Schmerz ist nicht zweckvoll! Zwar hat seine Existenz einen Platz im Heilsplan Gottes oder ist wenigstens in einer theologischen Gesamtkonzeption verankert, aber primär ist Schmerz nichts Positives, sondern hat mit der Existenz des Bösen in der Welt zu tun. 2.) Der Versuch einer radikalen Schmerzausschaltung ist widersinnig. So wenig es möglich ist, dass der Mensch das Böse besiegt, so undenkbar erscheint eine völlige Beseitigung von Krankheit und Schmerz. 3.) Wegen der untrennbaren Einheit von Körper und Seele kann die Frage nach den körperlichen Bedingungen des Schmerzes gar nicht auftauchen. Das Organismusmodell der galenisch-aristotelischen Medizin lässt es gar nicht zu, einen Bereich von Erscheinungen rein körperlicher Art von einem anderen rein seelischer Art abzutrennen. Es kann daher auch nicht der Gedanke aufkommen, die unangenehme oder quälende Schmerzempfindung durch Entfernen ihrer „bloß“ körperlichen Voraussetzungen oder Mechanismen beseitigen zu wollen.


In der Neuzeit setzte René Descartes eine entscheidende Zäsur für alle weiteren Systembildungen. In der Theorie des Organismus setzt er mit einem konsequent mechanistischen Ansatz die Zeichen für eine durchgreifende „naturwissenschaftliche“ Erforschung des Leiblichen. Der Mensch ist nach Descartes eine mechanisch-pneumatische Maschine, die mit einer denkenden und erkennenden Seele auf unbegreifliche Weise verbunden ist. Der Schmerz ist dabei eine zweckvolle und sinnvolle Einrichtung, um die Seele über einen körperlichen Schaden zu informieren. Im Gegensatz zu den mittelalterlichen Lehren wird der Schmerz nun nicht mehr mit dem Bösen identifiziert, sondern ist gerade durch seine „Unannehmlichkeit“ etwas Nützliches und Positives. So wird der Schmerz bei den Philosophen des Deutschen Idealismus deswegen als positiv erachtet, weil er den Menschen zum Handeln, zur Tätigkeit bringt und der Mensch nur in der Tätigkeit, in der Arbeit seine Bestimmung und Selbstverwirklichung findet. Solche idealistischen Lehren haben beträchtlichen Einfluss auf das allgemeine Bewusstsein und Verhalten gegenüber Schmerz gehabt und dürften die Medizin nicht unbeeinflusst gelassen haben. Den Schmerz als Wegweiser zu nehmen, begründete ein erfolgreiches Forschungsprogramm, das mit seiner analytischen Methode zur Aufdeckung von Organpathologien und deren Therapie führte. Dieser Weg, in systemtheoretischer Sprache funktionale Differenzierung genannt, ist zwar bis heute erfolgreich, lässt aber das spezifisch Menschliche außer Betracht3.

Dieses spezifisch Menschliche wieder einzuholen, ist auch ein Ziel der Arbeit von Sauerbruch und Wenke. Sie unterscheiden zwischen „physiologischen“ und „pathologischen“ Schmerzen, weil „der körperliche Schmerz außerordentlich tief in die zahlreichen Schichten der Persönlichkeit hineinwirkt und seinerseits in Erscheinung und Ausdruck von ihnen modifiziert wird. Jede ernste Krankheit, selbst die, die ohne körperliche Schmerzen verläuft oder vor dem Einsatz von Schmerzen beginnt, verursacht tiefgreifende, wenn auch meist nur vorübergehende Änderungen der Persönlichkeit des Kranken4“. “Mit dieser Unterscheidung lässt sich auch leichter die Eigentümlichkeit der „Schmerzkrankheit“ (der Algopathie) erkennen, bei denen der Schmerz offenbar nicht ein Symptom neben anderen, nicht Ausdruck von lokalisierbaren, morphologischen Veränderungen im Gewebe darstellt, sondern bei denen er selbst – ohne erkennbare körperliche Ursache – die eigentliche Krankheit ist.“ Und sie schließen daraus: „Es ist praktisch unmöglich, das Schmerzerlebnis seiner Quantität und Qualität nach in einen messbaren Zusammenhang mit dem körperlichen Geschehen zu bringen, das den Schmerz verursacht. Hinzu kommt, dass selbst bei jedem einzelnen Menschen die Erlebnisintensität des Schmerzes sehr stark von den jeweiligen Umwelteinflüssen und Bewusstseinssituationen abhängt“. Sie beschreiben im Weiteren die „Ich-Nähe“ eines Schmerzerlebnisses, die im allgemeinen von der Schwere der Lebensbedrohung durch die den Schmerz auslösende Krankheit abhängt. Höhere „Ich-Nähe“ des Schmerzes erlebt der Mensch erfahrungsgemäß gegenüber einer Krankheit, der er sich ausgeliefert fühlt. Er vermag nun weniger Abstand zu halten. Das kann sogar zu ungewöhnlichen Schmerzsteigerungen führen, die im körperlichen Zustand oder in der Krankheit keine ausreichende Ursache haben.

Nach Darstellung der (zeitgenössischen) Physiologie des Schmerzes kommen sie zur „Bekämpfung des Schmerzes“. Es werden die physikalischen und pharmakologischen Methoden beschrieben, aber in Einschüben immer wieder auf die Wichtigkeit der (psychologischen) Führung des Patienten hingewiesen, ein Thema, das in der heutigen Zeit dringend wieder Aufmerksamkeit sucht5.

Unter der Überschrift:
„Die seelische Bekämpfung des Schmerzes“ werden erstaunlich moderne Methoden vorgestellt, die wir heute im multimodalen Behandlungsmodell chronischer Schmerzen wiederfinden: Aufmerksamkeitslenkung und Einsatz von Autosuggestion, Hypnose und „autogenes Training“ zur „Resonanzdämpfung der Affekte“. „Ich“ und „Schmerz“ wären so durch die Übung einer inneren Bewegung voneinander zu trennen. „Der Schmerz allein sollte gleichsam als objektives Phänomen sine ira et studio betrachtet werden können. Letzten Endes handelt es sich um ein Vorgehen, bei dem der Schmerz (der Idee nach) seines Affektcharakters entledigt und zu einer einfachen Wahrnehmung gemacht werden soll“.

In dem Kapitel „Deutung des Schmerzes“ kritisieren sie mit J.D. Achelis die Forschungsrichtung, die ausschließlich die Schmerzrezeptoren untersucht und die Vorgänge des Schmerzerlebnisses in die Peripherie verlegt. Sie verweisen auf die Tatsache, dass die Bedingung der Schmerzaus - lösung und der Schmerzverlauf selbst außerordentlich variabel sind und dass dem Schmerz die Konstanz fehlt, die bei den anderen Sinnen die Voraussetzung für eine richtige und geordnete Wahrnehmung der Außenwelt ist. Das spricht nach Achelis Ansicht dagegen, den Schmerz überhaupt den Wahrnehmungen zuzuordnen: „So betrachtet wäre der Schmerz eigentlich keine Wahrnehmung, sondern das Erlebnis einer Störung, bei dem sich der Organismus nicht mehr konstant rezeptiv verhält, sondern bereits (in einer ungeordneten Form) reagiert und antwortet.“ Er lehnt die Meinung ab, der Schmerz sei eine „Nicht-Leistung“, vielmehr scheint „das Erlebnis des Schmerzes mehr ein qualvolles vergebliches Tätigsein als ein bloßes Erleiden darzustellen“.6

Im Weiteren diskutieren Sauerbruch und Wenke auch Erich Rothacker, der dem Schmerz einen Ort zuweist, der dem Subjektiven am nächsten steht: „Schmerz erlebe ich stets als ‚meinen Zustand’“. Er erscheint nie als Eigenschaft eines Gegenstandes. Der Hunger ist ebenfalls ein Erlebnis von größter subjekt-, besser es-hafter Drangnähe. Die Gesichtserlebnisse dagegen sind die objektivsten…“.7 Und sie zeigen sich geneigt, die aus der Gesamtschau von Leib und Seele erwachsene radikale These Buytendijks „anzuerkennen oder wenigstens zu verstehen“: „Der Mensch, der Schmerz leidet, ‚hat’ einen anderen Körper und ‚ist’ ein anderer Mensch.“8. Außerdem gäbe es nicht-lokalisierte körperliche Schmerzen als Ausdruck einer Gesamtverfassung, indem sie gleichsam über das ganze vitale Erleben sich ausdehnen. Diese Schmerzempfindungen seien wegen der der fehlenden Lokalisierung oftmals zu den Gemütsbewegungen, d.h. zu den affektiv-emotionalen Zuständen gezählt worden; jedoch fälschlicherweise, weil trotz alledem ihre Beziehung zur leiblichen Konstitution außer Frage steht. „Diese Schmerzen sind genau so echt wie die Schmerzen einer Wunde“. 9

Das biopsychosoziale Konzept des chronischen Schmerzes

Abb. Schmerz als multidimensionales Syndrom

In der gelebten Wirklichkeit besitzt der Patient, genau wie sein Arzt, in der Regel ein monokausales medizinisches Konzept des Schmerzes, das auf seiner Erfahrung mit akutem Schmerz beruht. Dass selbst dies dem Schmerz des Patienten unangemessen sein kann, mögen obige Ausführungen belegen, denn Sauerbruch und Wenke unterscheiden nicht zwischen akutem und chronischem Schmerz. So machen wir es heute, führen dann aber den primär chronischen Schmerz ein, um eine plötzlich aufgetrete

ne Schmerzkrankheit in all ihren psychischen, sozialen und emotionalen Dimensionen erfassen zu können. Der chronische Schmerz beinhaltet damit mehr als das „Erleben“ von Schmerzen10. Er ist als Syndrom zu verstehen, bei dem das Erleben des Schmerzes in seiner Intensität (Schmerzstärke), seiner Qualität (sensorisch und affektiv) sowie seiner Lokalisierung und seinen zeitlichen Charakteristika zwar ein Kernstück des Syndroms ausmacht, aber zur Charakterisierung bei weitem nicht ausreicht. Die Beeinträchtigung des Patienten ist im Wesentlichen bestimmt durch die kognitivemotionalen und behavioralen Komponenten des Syndroms. Gerade kognitive und emotionale Aspekte des Schmerzes – wie Kontrollverlust, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Depression – sind Korrelate und vermutlich auch Verstärker der Schmerzen.

Die Fokussierung auf den Schmerz, die damit verbundene moderne Diagnostik und Behandlung, führen zu einer Einengung der Lebensperspektive, mit der eine gravierende Veränderung des gesamten Lebensgefüges einhergeht. Das Schmerzmanagement selbst (Arztbesuche, Medikamenteneinnahme, Bestrahlungen, Bäder usw.) steht im Vordergrund des Lebensvollzugs und kann zum nahezu einzigen Lebensinhalt werden.

Die psychische Beteiligung bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung des chronischen Schmerzsyndroms ist am besten im Rahmen eines Prozessmodells zu verstehen. Ist eine erste Schmerzempfindung (z.B. Rückenschmerzen durch langes, verspanntes Sitzen, Tragen schwerer Lasten etc.) ausgelöst, wird diese unmittelbar durch psychologische Prozesse moduliert. So nimmt die Bewertung des Geschehens, etwa wie bedrohlich der Schmerz eingeschätzt oder in welchem Ausmaß er als kontrollierbar wahrgenommen wird, Einfluss auf das Erleben. Einstellungen und Überzeugungen, z.B. „Aktivitäten verschlimmern Schmerzen“, prägen weiter das Erleben und Verhalten im Zusammenhang mit dem Schmerz. Der emotionale Zustand sowie Angst oder depressive Stimmungen sind weitere Mo dulationsfaktoren. Zugleich wird das „Schmerzschicksal“ durch die mehr oder weniger erfolgreichen Bewältigungsbemühungen des Patienten mitbestimmt.

Diese psychosozialen Faktoren werden leider häufig nicht rechtzeitig in die Beurteilung und Behandlung einer chronischen Schmerzsymptomatik miteinbezogen, so dass in der Folge die Patienten den verschiedensten, zum Teil auch invasiven monodisziplinären Therapien zugeführt werden, die häufig zu einer weiteren (iatrogenen) Chronifizierung beitragen. (Als Beispiel hier nicht zuletzt die Unzahl von Operationen an der Wirbelsäule ohne wirklich gravierenden organpathologischen Befund.)

Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie

Die adäquate Therapie chronischer Schmerzen ist nicht nur multidisziplinär, sondern auch interdisziplinär. Interdisziplinäre Schmerztherapie ist mehr als die multidisziplinäre Addition fachspezifischer Einzelaspekte. Interdisziplinäre Schmerztherapie ist die integrierte und koordinierte Verwendung fachspezifischer Fähigkeiten und Erfahrungen und gekennzeichnet durch einen transparenten Kommunikationsprozess, der alle Diagnostiker und Therapeuten fortwährend miteinbezieht, die mit dem Patienten zu tun haben.

Multimodale Schmerztherapie als spezifisches Behandlungskonzept bezeichnet dazu ein aktivierendes, verhaltenstherapeutisch fundiertes Verfahren, in dem die Fachrichtungen Medizin, Psychologie, Sportwissenschaften, Physio- sowie Sozialtherapie in einem Therapeutenteam in fortwährender enger Kooperation stehen.
Der Arzt im Team soll sich dabei in erster Linie nicht als Behandler verstehen, sondern als Moderator und kollegialer Leiter sowie als steter Motivator für Patienten und Kollegen. Da die meisten Patienten dazu neigen, ihre Somatisierungen nicht so schnell aufzugeben, ist er immer wieder diagnostisch gefordert.

Besonderes Fingerspitzengefühl verlangt dabei die Notwendigkeit, sich immer wieder zu versichern, keine relevante Organpathologie zu übersehen, ohne durch aufwändige Untersuchungen weiter zur Chronifizierung beizutragen. Die Patienten erwarten außerdem immer wieder glaubhafte Erklärungen bezüglich des Zusammenhangs ihrer psychischen Situation mit den körperlichen Beschwerden.

Anmerkungen
1 Dies ist der Titel eines Buches, welches von Ferdinand Sauerbruch (dem berühmten Chirurgen) und Hans Wenke (später Professor für Psychologie und Pädagogik) zuerst 1936 veröffentlicht wurde. Hier beziehe ich mich auf die 2. Auflage, die 1961 zehn Jahre nach dem Tod Sauerbruchs, von Wenke überarbeitet und erweitert, erschien; Athenäum, Frankfurt 1961
2 Siehe: Hucklenbroich, P., Evers, S., Medizinhistorische und medizintheoretische Aspekte des Schmerzes, in: Gralow, Husstedt et.al.: Schmerztherapie interdisziplinär, Schattauer, Stuttgart 2002, 3-15,7
3 Obermeier, O.P., Mensch-Sein in systemtheoretischer Sicht, Vortrag Postgraduiertenseminar Dubrownik 1988 zur Kritik an der systemtheoretischen Position Niklas Luh­manns
4 Diese und weitere Zitate entstammen, wenn nicht anders angegeben, dem oben zitierten Werk von Sauerbruch und Wenke. Im Interesse einer Platzersparnis wird auf die Angabe der jeweiligen Zitatstelle verzichtet.
5 Bejenke C.J., Vorbereitung von Patienten bei medizinischen Eingriffen, in: Revenstorf, D., Peter, B., Hypnose in Psychotherapie, Psychosomatik und Medizin, Springer, Berlin/Heidelberg 2001, 596-602. Seminare dazu hielt sie unter dem Titel: „Worte wie Medizin“
6 Achelis, J.D., Die Physiologie der Schmerzen. Der Nervenarzt, Jg. 9, 1936, 559 ff., zitiert nach Sauerbruch und Wenke, a.a.o.
7 Rothacker, E., Die Schichten der Persönlichkeit, Bonn 1952, nach Sauerbruch und Wenke a.a.o.
8 Buytendijk, F.J.J., Über den Schmerz, Bern 1948, nach Sauerbruch und Enke, a.a.o.
9 Wie modern diese Darlegungen eigentlich sind, kann man nachprüfen, indem man sich über aktuelle neurobiologische Forschung informiert, z.B. in dem kleinen Büchlein von Johann Caspar Rüegg: Mind & Body, wie unser Gehirn die Gesundheit beeinflusst, Schattauer, Stuttgart 2010
10 Siehe Kröner-Herwig, B., Schmerz als biopsychosoziales Phänomen – eine Einführung, in: Kröner-Herwig, Frettlöh, Klinger, Nilges, Schmerzpsychotherapie, 7. Auflage, Springer, Berlin/Heidelberg 2011, 3-13.

Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Wolfgang Weigl
Anästhesiologie, Spezielle Schmerztherapie
Algesiologikum MVZ
Schmerztherapiezentrum
Heßstr. 22
80799 München
E-Mail: weigl@algesiologikum.de

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Naturheilpraxis 5/2011