Von der Signatur zur therapeutischen Anwendung
Margret Rupprecht
Menschliches Leben vollzieht sich in der steten Auseinandersetzung mit einander widersprechenden Erwartungen und Möglichkeiten: im Konflikt. Der Begriff Konflikt wird im Wörterbuch Psychologie definiert als intraindividueller Zustand, der durch zwei gleichzeitig auftretende antagonistische Ereignisse, Motive, Absichten, Bedürfnisse, Handlungsziele bzw. Handlungstendenzen ausgelöst und durch die dabei erfahrene, nach Lösung drängende Spannung gekennzeichnet ist.
Menschen erleben Konflikte umso intensiver, je mehr die beiden Pole als einander ausschließende erscheinen. Wer vor ein Entweder-Oder gestellt ist, muss sich für das Eine oder das Andere entscheiden und ahnt nur zu oft, dass die Entscheidung für das Eine verbunden ist mit dem Fehlen des Anderen  und die Entscheidung für das Andere jenes besagte Eine vermissen lässt. Fachbezeichnung:
		
In der metaphysischen Dialektik ist jedoch gerade der Widerspruch die treibende Kraft für Entwicklung. Der Mystiker Jakob Böhme schreibt dazu: „Es ist in der Natur immer eins wider das andere gesetzt, dass eines des anderen Feind sei, und doch nicht zu dem Ende, dass sich´s feinde, sondern dass eines das andre im Streite bewege und sich offenbare.“ Auch Hegel sieht den Widerspruch als die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit: Nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Tätigkeit.
Das Dazwischensein zwischen zwei Polen kann als ein Entweder-Oder empfunden werden, das sich in ein Drittes hinein auflöst. Bisweilen gelingt es auch, dass es sich zu einem Sowohl  Als auch wandelt. Goethe hat diesen Zustand in einem kurzen Vierzeiler beschrieben, in dem er den über der Erdkugel schwebenden und mit der einen Hand nach unten, mit der anderen nach oben deutenden Genius sagen lässt:
Zwischen oben, zwischen unten
schweb ich hin zu muntrer Schau
ich ergötze mich am Bunten,
ich erquicke mich im Blau.
Tausendgüldenkraut ist eine Heilpflanze, die in besonderer Weise die Bejahung der Konflikthaftigkeit des menschlichen Daseins zum Thema hat. Der botanische Name Centaurium leitet sich von den Zentauren ab, den Doppelwesen zwischen Pferd und Mensch in der griechischen Mythologie. Der bedeutendste Zentaur, der heilkundige Chiron, galt als Sohn des Titanen Kronos, der der Nymphe Philyra in Rossgestalt beiwohnte. Aus dieser Verbindung entstand ein vierbeiniges, aus Mensch und Pferd gebildetes Wesen, das in seiner äußeren Gestalt symbolhaft die Zwischenstellung des Menschen zwischen Göttlich-Titanhaftem und Erdhaft-Elementarem verkörpert. Die Konflikthaftigkeit dieser Situation findet auch in der Lebensgeschichte Chirons ihre Entsprechung: Ein vergifteter Pfeil des Herakles fügt unabsichtlich Chiron eine unheilbare Wunde zu. Um nicht auf ewig an dieser Wunde leiden zu müssen, tritt Chiron seine Unsterblichkeit an Prometheus ab und geht freiwillig in den Hades. So vereinigte er in seiner Person beides: Die Unsterblichkeit als Sohn des Titanen Kronos und die Sterblichkeit als Sohn des Erdwesens Philyra.
Literatur
			Werner D. Fröhlich: Wörterbuch Psychologie. dtv, München 2002
			Heinz Nicolai: Goethes Gedichte in zeitlicher Folge. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1999
			Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. dtv, München 1979
			Roger Kalbermatten: Wesen und Signatur der Heilpflanzen. Die Gestalt als Schlüssel zur Heilkraft der Pflanzen. AT Verlag, Aarau 2002
			Susanne Fischer-Rizzi: Medizin der Erde  Legenden, Mythen, Heilanwendung und Betrachtung unserer Heilpflanzen. Hugendubel Verlag, Kreuzlingen 2000
			Hunnius. Pharmazeutisches Wörterbuch. Walter de Gruyter, Berlin 1998
			Gerhard Madaus: Lehrbuch der biologischen Heilmittel. Mediamed Verlag, Ravensburg 1938, Band 4
			Wilhelm Pelikan: Heilpflanzenkunde I, Verlag am Goetheanum, Dornach 1999
			Max Wichtl (Hrsg.): Teedrogen und Phytopharmaka. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 2002
Anschrift der Verfasserin:
Margret Rupprecht
Medizinjournalistin
Hohensalzaer Str. 6a
81929 München
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Naturheilpraxis 3/2011