FACHFORUM

Passionsblume (Passiflora incarnata)

Von der Signatur zur therapeutischen Anwendung

Margret Rupprecht

Ist auch dein Kreis unscheinbar, eng und klein, erfülle ihn mit deinem ganzen Wesen, bestrebe dich, ein guter Mensch zu sein, schreibt der griechische Dichter Homer im 8. Jh. vor Christus. Die Textstelle ist das älteste Zeugnis der abendländischen Literaturgeschichte, die den Kreis als einen Raum darstellt, in dem sich individuelles Leben vollzieht. Noch heute ist der Begriff vom Lebenskreis sprichwörtlich. Die indische Philosophie kennt ein ganz eigenes Symbol dafür: das Mandala. Der Mensch entspringt aus dem Mittelpunkt des Kreises, bewegt sich bis zum äußeren Rand, der symbolisch für die Blüte des Lebens steht, um danach zurückzukehren zur Mitte. Noch nie ist ein Mensch anders in dieses Leben hinein- oder hinausgegangen als durch diesen Mittelpunkt und alle Versuche, sich an der Peripherie festzuklammern, müssen unweigerlich scheitern.


Signaturenlehre und Anthroposophische Medizin

In der Pflanzenwelt gibt es ein Gewächs, das zum Kreis in einer wesenhaften Beziehung steht: Passiflora incarnata, deren Blüte zehn konzentrische Kreise um einen genau im Zentrum liegenden Mittelpunkt bildet. Die Passionsblume, ein pflanzliches Mandala, Symbol für das aus der Mitte kommende und zur Mitte zurückkehrende Leben, hat nicht umsonst eine tief beruhigende und zentrierende Wirkung auf das Seelenleben. Sie erinnert an einen Satz des Augustinus aus seinen Confessiones: „Unruhig ist mein Herz, bis dass es ruhet in dir.“ Schon jene Menschen, die der Pflanze den Namen Passionsblume gaben, haben die religiöse Dimension der Pflanze gespürt. Die „Fleisch gewordene Leidensblume“, abgeleitet von den lateinischen Worten incarnatus, passio und los, wurde von Missionaren in Südamerika mit der Christusgestalt assoziiert, die in den drei Narben der Pflanze die Nägel der Kreuzigung sahen, im Fadenkranz der Blüte die Dornenkrone Christi und in den fünf Staubbeuteln seine Wundmale.

Der Kreis mit seinem Mittelpunkt gehört zu den Ursymbolen des Lebens. Er kann gedacht werden als ein Punkt, der sich aufbläst, die Dimensionen von Zeit und Raum in sich hineinfließen lässt, um sich anschließend wieder in sich selbst zurückzuziehen. Das Mandala findet sich in der Atomphysik im Tanz der Elektronen um einen Kern ebenso wie in der Zelle als Grundbaustein organischen Lebens, die alle Informationen für ihre vielfältigen Strukturen und Funktionen aus dem in ihr ruhenden Kern erhält. In jedem Sonnensystem und Spiralnebel begegnet uns dieses Urmuster des Universums ebenso wie in Blütenkelchen, Wasserstrudeln, Schneckenhäusern und Wirbelstürmen. Im menschlichen Leben entspricht der Mittelpunkt des Mandalas dem Paradies, in dem vollkommene Einheit herrscht und keine Gegensätze vorhanden sind. Der Weg in die Peripherie ist der Weg in die Polarität und den Konflikt, ein schmerzlicher, aufwühlender, von Kämpfen und Entzweiungen begleiteter, aber unvermeidlicher Prozess. Es geht nicht anders: Der Weg des Kindes aus der unbewusst erlebten Mitte zurück in die bewusst gesuchte Mitte, der Weg von der Geburt zum Tod, muss ein Weg durch die Konflikthaftigkeit der Existenz sein, denn Bewusstsein entsteht und schärft sich vor allem in der Entzweiung. Es beginnt zu entstehen mit der Trennung von Mutter und Kind, um sich weiter zu formen und zu differenzieren in jedem konstruktiv durchlebten Konflikt. Auch das ist ein Grund, warum Koryphäen des menschlichen Bewusstseins, sei es Sokrates oder Christus, zum Tode verurteilt wurden. Ihre Bewusstseinshöhe war mit dem Durchschnittsbewusstsein der sie umgebenden Gesellschaft nicht mehr vereinbar. Der Riss wurde zu tief.

Wenn Menschen sich in Lebensphasen befinden, in denen die Konflikthaftigkeit des Daseins sie überfordert, in denen ihr Herz von Ängsten und Sorgen bedrückt wird und sie in den Wogen des Lebens unterzugehen drohen, ist Passiflora incarnata ein wunderbares Heilmittel.

Die vergängliche Schöne

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Passiflora in Geschichte und Mythologie

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Pharmakologie und Indikationen

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Literatur
Ursel Bühring: Praxis-Lehrbuch der modernen Heilpflanzenkunde. Sonntag Verlag in Medizin Verlage Stuttgart, 2005
Ruediger Dahlke: Lebenskrisen als Entwicklungschancen. Bertelsmann Verlag, München 2006
Gerhard Madaus: Lehrbuch der Biologischen Heilmittel. Band 9, Mediamed Verlag, Ravensburg 1989
Roger Kalbermatten: Wesen und Signatur der Heilpflanzen. Die Gestalt als Schlüssel zur Heilkraft der Pflanzen. AT Verlag, Aarau 2002
Henning Schramm: Heilmittel der anthroposophischen Medizin. Elsevier Verlag bei Urban & Fischer, München 2009
Rita Traversier u.a.: TCM mit westlichen Pflanzen. Sonntag Verlag, Stuttgart 2005
Heinz-Hartmut Vogel: Wege der Heilmittelfindung. Band 2. Natur – Mensch – Medizin VerlagsGmbH, Bad Boll 2000
Hildebert Wagner, Markus Wiesenauer: Phytotherapie – Phytopharmaka und pflanzliche Homöopathica. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2003
Max Wichtl u. a.: Teedrogen und Phytopharmaka. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 2002

Anschrift der Verfasserin:
Margret Rupprecht
Heilpraktikerin und Medizinjournalistin
Hohensalzaer Str. 6a
81929 München

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Naturheilpraxis 2/2011