Trauer um Norbert Seidl

Norbert Seidl

Als Norbert Seidl im Jahre 1998, also in einem Alter jenseits der Fünfzig, seine mehr als 30 Jahre bestehende erfolgreiche Praxis aufgab und seine Zelte in München abbrach, um im schleswigholsteinischen Geesthacht, am Rande von Hamburg an der Elbe einen beruflichen Neuanfang zu wagen, kann ihm das sicher nicht leicht gefallen sein.

Gewiss waren die familiären Gründe, die ihn zur Übersiedlung in den Norden Deutschlands und die Übernahme der Praxis seines Schwiegervaters bewogen gewichtig genug, um diesen Einschnitt in sein berufliches Leben und die Preisgabe seines sozialen Umfeldes zu rechtfertigen. Aber hinzu kam die bis ins Jahr 1959 zurückreichende Liebe zu dem Land zwischen den Meeren, als er bei der Bundesmarine eine dreijährige Berufsausbildung als Krankenpfleger absolvierte. Und letztlich faszinierte ihn die Chance, in eine Generationen zurückreichende Tradition einer Heilpraktiker-Familie eintreten und damit naturheilkundlichen Disziplinen eine eigene Prägung geben zu können.

Dies galt zuvörderst für die ihm besonders am Herzen liegende Chiropraktik, über die er in einem Nachruf „Dem Heilpraktiker Willi Schmidt zum 10. Todestag“ in dem vom Heilpraktikerverband Bayern im Jahre 1984 herausgegebenen Buch „Die Kunst der Chiropraktik und Osteopathie“ schrieb, dass diese aus den USA stammende heilkundliche Therapie – von den damaligen Ärzten als Kurpfuscherei verpönt – „nicht nur ein Heim gefunden“ habe. „Sie wurde weiterentwickelt, bekam neue Inhalte und wurde in Beziehung zu anderen naturheilkundlichen Therapieverfahren gebracht.“

Kollege Seidl würdigte damit Willi Schmidts dezidierte Ablehnung der „Nur-Chiropraktik“ als Spezialistentum und unterstützte die Weiterentwicklung chiropraktischer Tätigkeit in einem ganzheitlichen Therapiesystem. So war er Mitbegründer der Fachtagung Chirotage Lenggries, die bis heute die Verknüpfung chiropraktischer und osteopathischer Techniken mit naturheilkundlichen Disziplinen pflegt.

Nach weiteren Ausbildungsjahren in Kassel, die ihm die Zulassung als staatlich geprüfter Masseur und Bademeister einbrachten, begann Norbert Seidl im Jahre 1965 seine Heilpraktiker-Ausbildung an der Heilpraktiker-Fachschule München und eröffnete sogleich nach dem Erwerb der Heilpraktiker-Zulassung eine eigene Praxis im Münchner Stadtteil Moosach. Während der Ausbildungsjahre in der Münchner Giselastraße lernte er auch seine Frau Elke Draeger kennen. Beide bewiesen damit, dass die berufsständische Fachschule nicht nur bildungsfördernd, sondern auch ehestiftend sein kann, und sie traten damit in die Reihe der Heilpraktiker-Ehepaare ein, die in einer ureigenen Form auch berufsprägend gewirkt haben, welche der Bezeichnung „Heilpraktiker-Familientradition“ ihren besonderen Sinn verleihen. Inzwischen hat auch ein Sohn die Heilpraktikerausbildung absolviert und befindet sich in der Praxis.

Selbst viele Jahre ein Lernender, war es Norbert Seidl schon frühzeitig ein Anliegen, das erworbene Wissen den nachfolgenden Berufsanwärtern weiter zu vermitteln, und so ließ er sich von 1967 an bis 1975 als Lehrer für manuelle Therapie und Chiropraktik verpflichten.

Seine Bedeutung für den Heilpraktiker-Beruf erlangte Seidl aber zuvörderst als langjähriger Vorstand des Heilpraktikerverbandes Bayern (der damals noch wegen gerichtlicher Auseinandersetzungen um Namensrechte mehrmals den Namen wechseln musste und zuletzt Fachverband Deutscher Heilpraktiker, Landesverband Bayern hieß). In dieser Zeit, im Jahre 1979 war Seidl, in doppelter Weise als Vorstand und Lehrer, von einem Bescheid der (Bezirks-) Regierung von Oberbayern betroffen, mit welchem dem Verband untersagt wurde, den Fachschultitel zu führen und mit ihm zu werben. Da dieser Bescheid – wie die Süddeutsche Zeitung damals zu berichten wusste – „an die Existenz der Heilpraktiker ging“, klagte Seidl dagegen und konnte für den Verband die Feststellung des Gerichts als Erfolg verbuchen, „dass ein fester Berufsbegriff vorliegt und dass das Berufsbild durch das erforderliche Fachwissen geprägt wird“. Aber der Ausgang des Prozesses stand lange auf des Messers Schneide, und so wurde damals mit dessen voller Zustimmung der Name des Doyens unseres Berufs, Josef Angerer, in den Schulnamen aufgenommen.

Spätestens damals gelangte Seidl wohl zu der Einsicht, dass es nicht befriedigen kann, die Anerkennung unseres grundgesetzlich geschützten Berufs auf dem Instanzenweg der Gerichte erstreiten zu müssen, und so knüpfte er ganz gezielt – und wohl auch mit Unterstützung des Landtagspräsidenten und Angerer-Freundes Dr. Franz Heubl – Kontakte zu den leitenden Ministerialbeamten in den für unseren Beruf zuweilen wechselnden Staatsministerien. Als Forum für solche Gespräche bot sich schon damals der gediegene Rahmen der Tagungen für Naturheilkunde an, die den Gesundheitspolitikern einen Eindruck vom hohen Niveau der berufsständischen Heilpraktiker-Fachfortbildungen vermittelten. Somit legte Norbert Seidl schon damals, vor mehr als 30 Jahren, die Grundlagen für Zuverlässigkeit und Vertrauen in unseren Beruf, auf denen alle seine Nachfolger aufbauen konnten und auf diese Weise fortwirken.

Trotz der geographischen Distanz ist Norbert Seidl „seinem“ bayerischen Heilpraktiker-Landesverband stets verbunden geblieben. Das zeigt seine hohe Wertschätzung der Ehrungen, die ihm hier zuteil geworden sind, vor allem die Ehrenmitgliedschaft des Landesverbandes Bayern und die Verleihung der Ehrennadel des Verbandes. Sie signalisierten ihm, dass die Mitglieder und die von ihnen gewählten Repräsentanten des Verbandes sehr wohl zu schätzen wussten, was er für sie getan hat. Und sichtlich wohl fühlte er sich, wenn er bei seinen gelegentlichen Besuchen in München an die Stätten seines früheren Wirkens zurückkehren konnte und im Kreise seiner Kolleginnen und Kollegen alte Erinnerungen auffrischen und neue Probleme diskutieren konnte. Und immer wieder fiel uns dabei auf, dass sein eher beiläufig eingestreuter Rat aus der geographischen Ferne ausgesprochen lebens- und praxisnah war. Wir müssen solchen Rat in Zukunft schmerzlich vermissen: Norbert Seidl starb am 11. Oktober 2010 schnell und unerwartet im Alter von 69 Jahren.

Ursula Hilpert-Mühlig
Vorsitzende des Heilpraktikerverband Bayern e.V.
1.Vizepräsidentin des Fachverband Deutscher Heilpraktiker e.V.

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Naturheilpraxis 11/2010