Blätter für klassische Homöopathie

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Klassische Homöopathie

Hahnemanns Falldokumentation in historischer Perspektive

Von Prof. Dr. Martin Dinges

Die Frage nach der Aktualität des Organon, also eines medizinischen Werkes, das vor 200 Jahren erstmals veröffentlicht wurde, kann im Jahre 2010 mit Fug und Recht neu gestellt werden. Üblicherweise veralten medizinische Erkenntnisse ja sehr schnell. Demgegenüber beziehen sich Homöopathen heute immer noch auf dieses Grundlagenwerk der Homöopathie, das Organon.

Für diesen Beitrag habe ich zwei zentrale Aspekte herausgegriffen, die Anamnese und die Dokumentation. Es ist und bleibt eine Besonderheit der Homöopathie, das sehr ausführliche Gespräch mit der Patientin oder dem Patienten an den Anfang und in den Mittelpunkt ihrer Behandlung zustellen. Das geht über die sonstige „sprechende“ Medizin des Hausarztes weit hinaus. Eine homöopathische Erstanamnese kann gut und gerne über eine Stunde oder gar noch länger dauern. Sie dient einer umfassenden Erhebung des Gesundheitszustandes der Patientin/des Patienten. Dazu gehören seine Vorerkrankungen sowie möglicherweise von den Vorfahren ererbte Belastungen. Die Ergebnisse des Gesprächs werden nach einem bestimmten Schema notiert. So entsteht die besondere homöopathische Falldokumentation. Daraus erklärt sich der Zusammenhang von Anamnese und Dokumentation als Thema dieses Artikels.

Als Historiker werde ich auf die geschichtliche Bedeutung der Anregungen des Arztes Dr. Samuel Hahnemann eingehen. Dazu werde ich, wie in unserer Fachdisziplin üblich, zu den „Quellen“, also auf den Originaltext, zurückgehen.

Hahnemanns Richtlinien zum Anamnesegespräch: Anmerkungen eines Historikers

Sehen wir uns zunächst Hahnemanns Vorgaben und seine Praxis genauer an. Das Anamnesegespräch wird im Organon in den §§ 83 ff. umfänglich beschrieben. Dieses Werk erschien erstmals 1810, dann schon 1819 in zweiter Auflage und während Hahnemanns Leben noch in drei weiteren Ausgaben: Der Autor hat so jeweils seinen neuesten Kenntnisstand aktuell an die Kollegen – und übrigens auch an die Patienten – weitergeben wollen. Das Buch wurde besonders nach den großen Erfolgen der Homöopathen bei der Bekämpfung der Cholera, also nach 1830, und damit schon zu Hahnemanns Lebzeiten, in mehrere andere Sprachen übersetzt.1 Erst lange nach seinem Tod, im Jahr 1842, kam die sechste Auflage heraus, auf die man sich heute immer bezieht. Natürlich änderten sich die Anordnung der Paragraphen und damit ihre Nummern im Lauf der Zeit. Heutzutage zitiert man die Paragraphen üblicherweise anhand der letzten, nämlich der sechsten Auflage.

Hahnemann unterscheidet zunächst zwischen den Anamnesen der leichter zu erkennenden akuten Krankheiten und den chronischen Krankheiten. Am Beispiel der schwieriger zu entdeckenden Krankheitszeichen chronischer Beschwerden führt er sein Protokoll für das Gespräch aus. Für den Behandelnden legt er fest, dass er nur dasjenige aus seinen Vorgaben übernehmen muss, was im Einzelfall geboten ist. Damit drückt er klar aus, was das Organon sein soll, nämlich ein Werkzeug für die praktische Tätigkeit des Behandlers, dessen Kompetenz Hahnemann respektiert. Das griechische Wort Organon bedeutet ja „Werkzeug“.

Die Anforderungen an den „Heilkünstler“, wie Hahnemann den Arzt nennt, sind: „Unbefangenheit und gesunde Sinne, Aufmerksamkeit im Beobachten und Treue im Aufzeichnen des Bildes der Krankheit“ (§ 83).

Der Kranke soll dann „den Vorgang seiner Beschwerden“ klagen. Hahnemann bezieht im Folgenden auch die Angehörigen ein: Sie sollen „seine (also: des Kranken) Klagen, sein Benehmen, und was sie an ihm wahrgenommen, erzählen“. Die Familie und das soziale Umfeld werden also als Hilfe für die Erkenntnis des Arztes betrachtet. Das unterscheidet sich etwas von der Praxis mancher Zeitgenossen von Hahnemann: Diese Ärzte wollten die Familienmitglieder lieber aus dem Krankenzimmer verweisen, um so – nicht gestört durch unerwünschte Ratschläge von Laien – alleine mit dem Patienten zu reden.

Homöopathische Dokumentation im historischen Rückblick

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Hahnemanns Dokumentationsstandards in ihrer Zeit

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Hahnemanns Patientenzahl im Vergleich mit zeitgenössischen Arztpraxen

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Entwicklung der Dokumentation bei Zeitgenossen und Nachfolgern

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Historische Bedeutung der Homöopathie für Dokumentationsqualität

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1 Martin Dinges: Rezeption. Die internationale Verbreitung der Homöopathie, in: Marion Maria Ruisinger (Hg.): Homöopathie. 200 Jahre Organon (Ausstellungskatalog), Ingolstadt 2010, S. 43-53, 46.
2 Markus Mortsch, Samuel Hahnemann: Krankenjournal D 22 (1821), Kommentar zu D 22, Stuttgart 2008, S. 110.
3 Jens Busche, Ein homöopathisches Patientennetzwerk im Herzogtum Anhalt-Bernburg: die Familie von Kersten und ihr Umfeld in den Jahren 1831-1835, Stuttgart 2008, S. 33 ff.
4 Franz Dumont, Nicht nur Hölderlin. Das ärztliche Besuchsbuch Soemmerings als Quelle für sein soziales Umfeld in Frankfurt am Main, Medizinhistorisches Journal 28 (1993), S. 123-153, 134ff.
5 Wolfgang Balster, Medizinische Wissenschaft und ärztliche Praxis im Leben des Bochumer Arztes Karl Arnold Kortum (1745-1836): Medizinhistorische Analyse eines Patiententagebuches (Diss. Med. Bochum 1990), S. 84, 169 f.
6 Johanna Bussmann, Krankenjournal D 6 (1806-1807). Transkription und Kommentar, 2 Bde, Heidelberg 2002, Kommentar, S. 4 (507 Patienten in 503 Tagen).
7 Kathrin Schreiber, Samuel Hahnemann in Leipzig. Die Entwicklung der Homöopathie zwischen 1811 und 1821: Förderer, Gegner und Patienten, Stuttgart 2002, S. 137-140 referiert auch die Angaben zu den anderen Orten.
8 Eigene Berechnungen nach Mortsch.
9 Eigene Berechnungen nach Gabriele Maria Ehninger, Das homöopathische Praxistagebuch von Samuel Hahnemann (1755-1843) aus den Jahren 1832/33. Transkription und Kommentar zum Krankenjournal D 36, Diss. med. Humboldt Universität Berlin 2003, S. 20-23.
10 Karl-Otto Sauerbeck, Kommentar zu DF 5, (unveröff. Manuskript), S. 15. Das ist eine etwas gewagte Berechnung, die bis zur Veröffentlichung und Analyse sämtlicher parallel geführter Krankenjournale der Pariser Zeit unter Vorbehalt gelten mag.
11 Selbst mit den besseren Honoraren von Privatpatienten blieben da gewisse Probleme.
12 Näheres zu den folgenden Angaben bei Martin Dinges, Arztpraxen 1500-1900. Zum Stand der Forschung, in: E. Dietrich-Daum, M. Dinges, R. Jütte, Chr. Roilo (Hg.): Arztpraxen im Vergleich: 18.-20. Jahrhundert, Innsbruck, Wien, Bozen 2008, S. 23-61, 51 f.
13 Engel, Patientengut, S. 94; Quellenbasis sind dafür dessen Kalendereinträge für 13 Jahre bei Osterhausen; neun Jahre bei Grotjahn.
14 Kortum behandelt in den 285 Tagen des Jahres 1805 (ab 19. März) 1382 Patienten in 2807 Konsultationen, also knapp 10 pro Tag! Angabe nach Balster, S. 122.
15 So auch Balster, S. 209 zu Kortum
16 Bruno Kottwitz, Bönninghausens Leben: der Lieblingsschüler Hahnemanns (1785 – 1864), Berg am Starnberger See 1985, S. 32 f.
17 Martin Dinges, Klaus Holzapfel, Von Fall zu Fall: Falldokumentation und Fallredaktion. Clemens von Bönninghausen und Annette von Droste-Hülshoff, in: Zeitschrift für Klassische Homöopathie, 47, 2004, S. 149-167.
18 Thomas Faltin, Homöopathie in der Klinik: die Geschichte der Homöopathie am Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhaus von 1940 bis 1973, Stuttgart 2002, bes. S. 375 ff.
19 Ubiratan Cardinalli Adler, Maristela Schiabel Adler u.a., Hahnemann’s late prescriptions, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 27, 2008 (2009), S. 161-172.
20 Martin Dinges, Klassische Homöopathie in Deutschland – Rückblick auf die ersten Jahrzehnte eines langen Weges, in: Zeitschrift für Klassische Homöopathie, 51, 2007, Sonderheft, S. 5-19.
21 Vgl. zu dieser Offenheit angehender Homöopathen gegenüber anderen Formen zeitgenössischer „Alternativmedizin“ auch Willi, Homöopathie und Wissenschaftlichkeit: Georg Wünstel und der Streit im Deutschen Zentralverein von 1969 bis 1974, Essen 2003, S. 12 f.

Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. Martin Dinges
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Straußenweg 17
70184 Stuttgart

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Naturheilpraxis 11/2010