Wenn nur das Gehirn Schmerz produziert

von Wolfgang Weigl

Ein Notarzt wird zu einer älteren Frau gerufen, die unter stärksten Schmerzen im Unterleib leidet. Er kommt mit seinem Team zu dem Einsatzort – hat sich gedanklich schon vorbereitet: eine akute Blinddarmentzündung, möglicherweise perforiert, bis zu Darmverschluss, vielleicht aufgrund einer gynäkologischen Erkrankung, vielleicht sogar krebsbedingt, einer Uterusentzündung oder sogar ein rupturierendes Aortenaneurysma, für alles hat er Therapieschemata bereit.

Aber nichts von alledem. Der Bauch ist weich, zeigt keine Druckschmerzhaftigkeit, Darmgeräusche sind unauffällig, der Kreislauf stabil und trotzdem gibt die alte Dame furchtbare Schmerzen an, die irgendwie vom Unterbauch bis über den Nabel ziehen. Wie eine riesige klaffende Wunde.

Der Notarzt greift in Gedanken schon zum Opiat, da erzählt die anwesende Tochter, eine gestandene Frau mittleren Alters, dass der Hausarzt ihrer Mutter bei solchen Anfällen immer Valium gäbe und dann ließen die Schmerzen rasch nach. Obwohl ein junger dynamischer Notarzt glaubt, Vieles besser zu wissen, und meint, mit Opiaten viel souveräner umgehen zu können als so ein Hausarzt, hört er doch auf den Rat und spritzt ein kurzwirksames Valiumpräparat. Die Schmerzen verschwinden rasch.

Als er sich erzählen lässt, seit wann diese Schmerzanfälle auftreten, erfährt er, dass die alte Dame vor längerer Zeit einen kleinen Schlaganfall gehabt habe, von dem sie sich wieder gut erholt habe, bis dann die Schmerzen aufgetreten seien. Die Anfälle seien nicht häufig, ein paar Mal im Jahr, und weil der Hausarzt sie immer gut behandeln konnte, habe man keine Notwendigkeit gesehen, zu einem Spezialisten zu gehen.

Offensichtlich gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Schlaganfall und den immer wieder auftretenden Schmerzanfällen. Auf der neurologischen Abteilung, zu der er seine Patientin bringt, erfährt er, dass dies ein sogenannter Thalamusschmerz ist, wie in unterschiedlicher Häufigkeit und Ausprägung nach einem Schlaganfall auftreten kann.

Schon 1906 erfolgte die erste systematische Beschreibung als Reiz- und Ausfallsyndrom in klinisch-pathoanatomischen Fallberichten nach Massenblutungen oder Infarkten des ventroposterolateralen Thalamus. Dieses „Thalamussyndrom“ ist gekennzeichnet durch einen zentralen, üblicherweise auf die kontralateralen Gliedmaße, Gesichts- oder Körperhälfte begrenzten, therapieresistenten Schmerz, begleitet von einer dystonen Bewegungsstörung der kontralateralen Gliedmaßen, häufig des Armes, sowie einer Störung des Schmerz- und Temperatursinnes der kontralateralen Körperhälfte bzw. der betroffenen Gliedmaße.
Grundsätzlich kann aber ein solcher zentraler Schmerz auch nach Thalamusläsionen anderer Ursache auftreten, z.B. nach Abszessen, bei Multiple-Sklerose-Herden oder aufgrund neurochirurgisch-iatrogener Läsionen. (Abb.)

Verlauf der zentralen Schmerzbahnen:
Nach dem Eintritt der Fortsätze des 1. Neurons in die Substantia gelatinosa des Hinterhorns wird der Erregungsimpuls von Schmerz, Temperatur und Juckreiz auf das zweite Neuron umgeschaltet, die Interneurone der grauen Substanz. Auf der gleichen Höhe erfolgt eine Kreuzung durch die graue Substanz und die Commissura anterior zur Gegenseite, wo sich der Tractus spinothalamicus formiert, der als zweites Neuron bis zum Thalamus zieht. Dieses zweite Neuron endet im Thalamus in der Umgebung des ventroposterolateralen Kerns, dort wird der Erregungsimpuls auf das dritte Neuron umgeschaltet = Tractus thalamocorticalis.

Nach Ringelstein, Zentraler Deafferenzierungsschmerz (Thalamusschmerz) in:
Gralow et al.: Schmerztherapie interdisziplinär,
Stuttgart 2002

Als Ursache der Schmerzphänomene wird einmal eine du

rch Unterbrechung der Nervenbahnen ausgelöste Überempfindlichkeit von schmerzreizverarbeitenden Nervenzellen auf Rückenmarksebene diskutiert, zum anderen aber auch eine Überaktivität von Nervenzellen im Thalamus, da enthemmende Neurotransmitter im Übermaß gebildet werden können. Dies führt zu abnormer Signalbildung und damit abnormer Verstärkung sensiblen Inputs. Dieser Input führt wiederum zur Überaktivität schmerzspezifischer Bezirke der Gehirnrinde, wodurch die spezifische Lokalisation der verspürten Schmerzen zustande kommt.
Die Diagnose ist grundsätzlich an den Nachweis einer zentralnervösen Läsion in den entsprechenden Strukturen gebunden, entweder klinisch aufgrund der Defektsyndrome oder durch Nachweis mittels bildgebender Verfahren.

Leitsymptom ist ein vom Patienten äußerst schwer zu beschreibender, sehr quälender Schmerz mit individuell unterschiedlicher Färbung, meist als Brennschmerz, der aber auch als tiefer, bohrender oder reißender bis stechender Schmerz in den betroffenen Gliedmaßen oder Körperregion angegeben wird.

Aber auch niedrige Schmerzstärken können als besonders quälend empfunden werden. Von einem Drittel der Patienten wird der Schmerz oberflächlich angegeben, von einem weiteren Drittel in der Tiefe lokalisiert, von dem restlichen Drittel in beiden Lokalisationen empfunden. Besonders belastend sind paroxysmale Schmerzattacken. Sehr typisch sind Exacerbationen in der Nacht oder unmittelbar beim Erwachen am Morgen oder aus dem Mittagsschlaf. Offenbar werden die Fehlsensationen durch die Arousal-Vorgänge beim Erwachen verstärkt.

Typisch ist auch eine bei ca. 60 % der Patienten zu beobachtende Allodynie: Hierunter versteht man eine Schmerzsensation, die äußerst heftig sein kann, jedoch durch normalerweise nicht schmerzhafte Reize ausgelöst wird. Beispiele sind leichte, oberflächliche Berührung durch die normale Kleidung oder die Bettdecke, oder Kältereize, etwa bei einem Spaziergang an einem kalten Wintertag. Viel seltener ist die Auslösung durch Impulse aus Muskel- und Sehnenrezeptoren bei Alltagsbewegungen. Durch psychische Erregung werden die Schmerzsensationen verstärkt. Je nach auslösendem Stimulus können die Schmerzen qualitativ und räumlich fluktuieren. Der Schmerz wird als äußerst quälend empfunden und ist gegenüber gängigen Analgetika therapieresistent. Die Beschwerden sind derart zermürbend, dass die Patienten suicidal werden können.

Der Zeitraum zur Entwicklung eines solchen Schmerzes ist sehr variabel und kann von unmittelbar nach einem Schlaganfall bis Monate und Jahre danach betragen. Häufig ist ein Zeitraum von 2-6 Wochen genannt, aber es ist auch ein Beispiel der Schmerzentwicklung nach 10 Jahren beschrieben.

Therapie

Es hat sich gezeigt, dass eine Bewegungstherapie der Entwicklung eines zentralen Schmerzes entgegenwirkt. Möglicherweise wirken die physiologischen Berührungs-, Druck- und Bewegungsreize einer zentralen Fehlverschaltung entgegen. Neuerdings hat sich überraschenderweise gezeigt, dass die Beübung der nicht betroffenen kontralateralen Extremität eine Bewegungsstörung zu bessern imstande ist. Dies könnte bei der Behandlung eines zentralen Schmerzens ebenfalls von Vorteil sein.

Keine medikamentöse Therapie ist bei allen Patienten effektiv. Als Medikament der ersten Wahl gilt Amitriptylin in einer Tagesdosis von 25-75, ggf. auch bis 150 mg am Tag. Falls dies oder ähnliche Medikamente aus der Gruppe der trizyclischen Antidepressiva (die antidepressive Wirkung ist hierfür nicht relevant) unwirksam sind oder nicht toleriert werden, kommen Medikamente aus der Gruppe der Antikonvulsiva und der Antiarrhythmika in Betracht, wobei heute Gabapentin und Pregabalin dem Vorzug vor Carbamazepin zu geben ist.

Opiate gelten nicht als Medikamente der ersten Wahl, da sie meist nur in hohen Dosen wirksam sind und häufig zu einer raschen Dosissteigerung führen. Die geringe Wirksamkeit von Opiaten kann molekularbiologisch inzwischen erklärt werden. Die therapeutischen Maßnahmen sind als Dauertherapie zu verstehen, die gelegentlich der Modifikation und in der Regel der Kombination der verschiedenen Wirkstoffe verlangt. Wegen der Nebenwirkungen der Medikamente und der häufig unbefriedigenden Therapieeffekte neigen die Patienten zu häufigen Therapeutenwechsel und sollten psychologisch entsprechend verständnisvoll geführt werden.

Bei der beschriebenen Patientin äußerte sich der Schmerz als von der Vulva ausgehend oder eine wie eine klaffende Wunde riesige Vulva, die fast den ganzen Unterleib mit einbezog und verständlicherweise auch schambesetzt verschwiegen wurde. Der Notarzt hat leider im hektischen Klinikalltag die Patientin aus den Augen verloren, ihr hat er aber sein Interesse für ein insgesamt doch selteneres Krankheitsbild zu verdanken und seine Aufmerksamkeit für ungewöhnliche Schmerzkrankheiten geschärft.

Literatur:
Klit, H., Finnerup, N.B., Jensen T.S., Central post-stroke pain: clinical characteristics, pathophysiology, and management, Lancet Neurol 2009; 8: 857-68
Gralow et al.: Schmerztherapie interdisziplinär, Stuttgart, New York 2002

Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Wolfgang Weigl
Anästhesist, spezielle Schmerztherapie
E-Mail: waweigl@t-online.de

Dieser Beitrag als PDF (für Abonnenten)


Zum Inhaltsverzeichnis

Naturheilpraxis 10/2010