BERICHT

Virtuoser Wanderer zwischen den geistigen Welten

Vor 50 Jahren verstarb Dr. Herbert Fritsche

Von Ursula Hilpert-Mühlig

Den Absolventen unserer Heilpraktikerfachschule ‘Josef Angerer’ ist das Gesicht in der Ahnenreihe jener Heilkundigen, deren Andenken wir in Ehren halten wollen, wohlbekannt. Einige werden in den Flurgesprächen erfahren haben, dass er „damals in der Giselastraße“ an dieser Schule Homöopathie gelehrt hatte. Aber eine persönliche Erinnerung an jene Lehrjahre hat kaum noch jemand: Am 20. Juni 1960, also vor fünfzig Jahren, verstarb Dr. Herbert Fritsche, im Alter von nur 49 Jahren.

Fritsche war kein Heilpraktiker, prägte aber unseren Beruf wie wenige andere in den schwierigen Zeiten des Neubeginns nach dem Zweiten Weltkrieg. Seine akademische Ausbildung erfuhr er als Biologe und promovierte 1936 in diesem Fach mit Auszeichnung. Trotzdem fand er in diesem Metier offenbar wenig Erfüllung, denn schon zwei Jahre zuvor gab er seinen Beruf als „Rezensent“ an. Und kurz vor Abschluss seiner Habilitation sattelte er um und absolvierte eine Ausbildung zum Psychotherapeuten.

In dieser Zeit fand er auch Eingang in die literarische Szene, knüpfte Freundschaften mit dem Arzt und Essayisten Gottfried Benn und dem Indologen und Anthroposophen Hans-Hasso von Veltheim-Ostrau, „zweier Genien, die das Jahr 1956 hinüberrief auf die andere Seite des Seins“, wie Fritsche in einer Widmung feststellte. Und von letzterem hatte er auch die Sentenz: „Wem es gelingt, aus seiner Krankheit eine Arznei zu machen, der hat die Krankheit wahrscheinlich überwunden“, als prägend übernommen.

Mit Gottfried Benn wiederum, und weit darüber hinaus fühlte er sich in dem Satz verbunden: „Kommt, reden wir zusammen, wer redet, ist nicht tot.“ Und obwohl ihn ein stattliches literarisches Schaffen auszeichnete, wirkte er – so der Schriftsteller Gerhard Nebel in seinem Nachruf auf Fritsche in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – „weniger durch Geschriebenes als durch das der Situation entspringende, in die Situation, in die Verehrung oder Freundschaft hineingesprochene Wort“. Er habe ein „einzigartiges Gemisch von Yogi und Café-Literat, von paracelsischem Heiler und Süchtigem, von Mystem aller erdenklichen Mysterien und von wissenschaftlich durchtrainierten Zoologen“ verkörpert, mit dem man – so Nebel weiter – „vier Tage eines pausenlosen Gesprächs verbringen (konnte), ohne Intervalle der Leere und sich breitmachende Langeweile“, ein „immer sprudelnder Quell“, der „aus einem schwächelnden Körper und aus einer wehrlosen Seele hervorbrach, die sich im Lebenskampf nicht behaupten konnte“. Er habe immer jemanden gebraucht, „der sein Dasein führte, er selbst war dazu unfähig, aber sein Charme, sein Geist, seine geniale Begabung für Freundschaften erreichten, dass sich immer ein solcher Verantwortungsträger fand: Die Last kam dem Gewinn, den der Belastete aus seiner Aufgabe zog, nicht gleich.“ Er habe „einen Geist verkörpert, dessen Grenzen nicht zu erreichen und abzuschreiten waren“.

Fritsche war – so wird er wesentlich nüchterner in einer Biographie charakterisiert – ein deutscher Autor und Herausgeber auf den Gebieten der Medizin, der Esoterik und der Literatur, andere sehen in ihm einen Okkultisten und Teosophen und darüber hinaus „als einen der bedeutendsten esoterischen Forscher und Schriftsteller“.

Schon in jungen Jahren und während seines Biologiestudiums gehörte er dem Ordo Templis Orientis (OTO) an, war von 1933 bis 1941 Schriftführer der Deutschen Gesellschaft für wissenschaftlichen Okkultismus und später auch Oberhaupt der Gnostisch-katholischen Kirche für Deutschland, einer Schwesterorganisation des OTO. Dem entspricht auch seine Grundauffassung, mit der er sich von einem bloßen naturwissenschaftlichen Weltbild abhob, dass „Menschsein eine religiöse Mission“ sei.

Vorübergehend arbeitete Fritsche auch in der Fastenklinik von Dr. Otto Buchinger, der in seinem Nachruf (im Vegetarier vom September 1960) offenbarte, dass dieser von der Gestapo inhaftiert war. In dieser Zeit seien ihm „in der inneren Auseinandersetzung mit dem Ungeist des Hitlerschen Reiches“ die furchtbarsten Jahre gewesen, die er „mannhaft-deutlich“ – so Buchinger – in seinem kaum noch auffindbaren Buch Das Huttenwort wie folgt aufgearbeitet hatte: „Von Luther kann ich allerdings schweigen, nicht aber von der Freiheit.“

Aus seiner Zeit in der Buchinger-Klinik resultiert wohl auch, dass die Vegetarier Fritsche als einen der Ihren vereinnahmen wollten, das aber wohl zu unrecht. Er habe zwar in deren Zeitschrift eine Artikelserie über den Vegetarismus begonnen, aber dann abrupt abgebrochen, wie sich unser Ehrenmitglied Gerhard Glas erinnert. Und auf dessen Frage, ob die Artikelserie nicht weitergeführt werde, habe Fritsche geantwortet: „Herr Glas, ich bin nicht so weit, dass ich persönlich so leben kann.“

Und dem entspricht auch jene Episode aus seiner Lehrerzeit an der Heilpraktikerfachschule in der Giselastraße in München: Nach einem Homöopathie-Unterricht seien die Schüler zunächst in den Englischen Garten spazieren gegangen und danach in einer Kneipe in der Nähe eingekehrt. Dort haben sie Fritsche angetroffen, genüsslich eine knusprige Schweinshaxe verspeisend. Und auf die erstaunten Blicke seiner Schüler habe er geantwortet: „Liebe Freunde, der Wegweiser muss nicht mitgehen.“

Seine profunden Kenntnisse der Homöopathie hat er sich wohl autodidaktisch angeeignet und darüber so grundlegende Bücher wie Hahnemann. Die Idee der Homöopathie (Berlin 1944) und Die Erlösung der Schlange. Mysterium, Menschenbild und Mirakel homöopathischer Heilkunst (Stuttgart 1953) verfasst, darüber hinaus verschiedene Aufsätze, die zumeist in der Naturheilpraxis – auch postum – erschienen sind.

Und obwohl Fritsche ausweislich seines Unterrichts auch über profunde Kenntnisse der Arzneimittelbilder verfügte, waren seine Veröffentlichungen keine Lehrbücher, sondern grundlegende Reflexionen über Hahnemanns Heilkunde oder auch brillante Streitschriften zur Verteidigung der Homöopathie, die in ihrer Tiefgründigkeit unveränderlich bis heute Aktualität genießen.

So schrieb er etwa in der Erlösung der Schlange: „Man kann die reine Wirkung einer Arznei nicht am Krankenbett kennenlernen, wie man das in den Jahrhunderten vor ihm (Anmerkung: Hahnemann) versucht hatte: denn ein Kranker ist infolge seiner Erkrankung verändert, sei es nun durch Verschlimmerung oder beim Versuch des Organismus, sie in Genesung umzuwandeln, diesen Leib-Seele-Geist-Organismus fortwährend. Bringt man in ihn Arzneien, so weiß man grundsätzlich nie, ob das, was sich daraufhin ereignet, aufs Konto der Veränderungen, die mit dem Erkrankungs- bzw. Wiederherstellungsgeschehen verbunden sind, aufs Konto eines Wirrwarrwirbels beider zu setzen sind. Am Kranken kann man, will man das Wesen einer Arzneiwirkung studieren, nur unreine und mithin wertlose Beobachtungen machen. Die Arznei muss jedoch, um Arznei sein zu können, eine Eigenschaft unabdingbar haben: Sie muss das menschliche Befinden verändern können.“
Wie würde Fritsche wohl reagieren, müsste er die neuerlichen Doktrinen zur Kenntnis nehmen, den angeblich wissenschaftlichen Wert der Homöopathie mit klinischen Doppelblind-Studien erweisen zu wollen?

In seinen letzten Tagen, die eng mit seinen Schülern an der Fachschule München – wie unsere Schule in der Giselastraße damals noch hieß – verbunden waren, dürfte er schon von einer Todesahnung ergriffen gewesen sein. Albert Baginsky, der damalige Geschäftsführer unseres Verbandes, schrieb darüber in seinem Nachruf in der Naturheilpraxis, er habe am 14. Juni – seinem 49. Geburtstag – „wie üblich über Homöopathie unterrichtet“. Den Lehrgangsteilnehmern sei aber aufgefallen, „dass er bei Gelegenheit der Besprechung eines bestimmten Arzneisymptoms lange bei der großen allbewegenden des Todes verweilt hatte“. Und schon in den Wochen zuvor habe ihn „eine schwere innere Unruhe und Unrast gequält, die ihn nicht hatte zu sich kommen lassen und auf seine schöpferische Produktion von lähmender Wirkung gewesen“ sei. Trotzdem habe er die Hoffnung geäußert, „bald wieder den Esel der deutschen Sprache reiten zu können“.

Fritsche hatte noch geplant, am Abend des gleichen Tages seinen Geburtstag feien zu können. Dazu kam es nicht mehr. Am Nachmittag setzten heftige Gallenkoliken ein, die ihn mit Hilfe eines befreundeten homöopathischen Arztes in eine Klinik zwangen, wo „der geschwächte Körper, seit Jahren aus der Substanz lebend und den mächtigen Geist fast hypertrophisch ernährend, von einer Lungenentzündung erfasst“ wurde. Und – so Baginsky – „am 20. Juni um 14 Uhr 40 schloss Dr. Herbert Fritsche die Augen“.

Herbert Fritsche war unser Lehrer in einer Zeit, die unserem Beruf eine neue Grundlegung bereitete. Sein Vermächtnis ist so groß und überzeugend, dass er es bis heute sein kann. Wir müssen es bewahren.

Ursula Hilpert-Mühlig
Heilpraktikerverband Bayern

Mit Dank an den Kollegen Gerhard Glas und Herrn Dr. Christian Ullmann, deren Archive und persönliche Aufzeichnungen diese Rückschau erst ermöglicht haben.

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Naturheilpraxis 07/2010