HISTORIE

Die Geburt der hippokratischen Medizin

Von Hermann Speiser

Wenn wir uns auf die Betrachtung der antiken Medizin einlassen, bekommen wir nur die Schauseite mit den großen Namen zu sehen, die bis in unsere Tage hinein glänzen. Vom tristen Alltag eines Normalarztes erfahren wir so gut wie nichts; von einem Struthion, der in der prallen Mittagshitze schwitzend auf seinem störrischen Esel über die kahlen Berge Griechenlands von einem abgelegenen Dorf zum anderen reitet und schon im Voraus weiß, dass er abends keinen Obolos mehr im Säckel hat als am Morgen. Denn die Bergler sind arme Schlucker, und er muss froh sein, wenn er als Lohn vielleicht ein Zicklein, ein Ziegenkäslein, einen halben Schlauch mit Wein oder eine Handvoll Oliven oder Feigen in seinen Schnappsack stecken kann, und manchmal ein bloßes Vergelt’s Gott ihn trösten muss.

Diese Bauern haben nie in ihrem Leben ein Geldstück in der Hand gehabt und Struthion würde nie in seinem Leben das Glück genießen können, Zugang in die wohlhabenden Häuser der reichen Küstenhandelsstädte zu finden wie seine berühmten Kollegen. Bei ihm wird immer Schmalhans Küchenmeister bleiben. Solche Dinge gehen ihm ab und zu bei seinen einsamen Ritten durch den Kopf.

So steinig wie Struthions Wege sind die Wege der Abstammungslehre. Statt hieb- und stichfester Beweise liefern die Forscher allzu oft recht kühne aber dürftige Behauptungen. Ihre Gegner sagen dagegen, dass der Mensch von Anfang an vollkommen war. Daher gelang ihm allein von allen Lebewesen die Schulung einer höheren Intelligenz zusammen mit der Fähigkeit des logischen Denkens. Ihm allein ist es gelungen, Kunst und Wissenschaften zu erschaffen, so, dass ein Raffael die Disputa in den vatikanischen Stanzen malen, ein Hahnemann die Homöopathie entdecken, ein Daimler den schnell laufenden Benzinmotor erfinden konnten.

Damit berühren wir ein anderes schwieriges Kapitel. Sagen wir nämlich, der Mensch hätte den unwiderstehlichen Drang, alles, was er produziert hat, ständig verbessern zu wollen, tun wir gut, das erst einmal auf die Westler zu beschränken, denn die übrigen Völker und Rassen kannten diesen Drang bis vor Kurzem überhaupt nicht. Chinesen, Inder und Japaner waren vorwiegend kontemplativ veranlagt. Erst als sie die Gefahren erkannten, die ihnen von den ungestümen Europäern drohten, rafften sie sich zur geistigen Gegenwehr auf und lernten erstaunlich schnell das abstrakte wissenschaftliche Denken und die Technik der Abendländer, und nun sind sie dabei, uns zu überflügeln.

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„Die ärztliche Kunst ist von allen Künsten die edelste“. (Hippokrates)

Literatur:
„Anfänge der Medizin“ – Henry E. Sigerist, Europa Verlag Zürich 1963
„Der Arzt im Altertum“ Walter Muri, Artemis Verlag München/Zürich, 5. Auflage 1986
„Die Werke des Hippokrates – Hippokrates Verlag, Marquardt & Cie, Stuttgart 1933 – 1940

Anschrift des Verfassers:
Hermann Speiser
Wilhelm-Speiser-Weg 3
73033 Göppingen

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Naturheilpraxis 04/2010