Blätter für klassische Homöopathie

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Klassische Homöopathie

Paganini als Patient bei Hahnemann „Heute Pulsatilla 1 Streukügelchen C30“

Von Robert Jütte

Zusammenfassung
Zu den berühmtesten Patienten Samuel Hahnemanns in seiner Pariser Zeit gehörte der Geiger Niccolò Paganini. Die im Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart erhaltenen Krankenjournale ermöglichen einen faszinierenden Blick in diese Krankengeschichte, die ein ungewöhnliches Ende findet, da die Arzt-Patient-Beziehung durch ein Ereignis nachhaltig gestört wird.

Summary
Among the most prominent patients who came to Samuel Hahnemann during his sojourn in Paris was the violinist Niccolò Paganini. Thanks to the case journals which are preserved in the Institute for the History of Medicine of the Robert Bosch Foundation in Stuttgart it is possible to have a closer look at this fascinating case history which came to an unexpected end due to a special event.

Schlüsselwörter: Hahnemann – Paganini – Crosério – Priapismus – Pulsatilla – Ipecacuanha – Sulphur

Keywords: Hahnemann – Paganini – Crosério – Priapism – Pulsatilla – Ipecacuanha – Sulphur


Wie sehr Hahnemann in Paris in dem Ruf stand, ein „Modearzt“ zu sein, zeigt ein Bericht im Frankfurter Journal, der anlässlich der Feier von Hahnemanns fünfundachtzigsten Geburtstag erschien. Darin zitiert der Pariser Korrespondent die stolze Äußerung seines Freundes, der ihn zu diesem Fest eingeladen hatte: „Sie haben gesehen, wie viele Italiener, Engländer und Amerikaner diesem Feste beiwohnten und welche Klasse der Franzosen an die Homöopathie glaubt.“ Da er jedoch noch den Rest eines Zweifels bei dem befreundeten Journalisten bemerkte, riet er diesem, sich doch am besten selbst ein Bild von dem Andrang zu Hahnemanns Sprechstunden zu machen. Als der Korrespondent am anderen Tag in die Rue de Milan zurückkehrte, bot sich ihm folgendes eindrucksvolles Bild: „(...) fand ich den Vorplatz und die Treppe mit armen Leuten angefüllt, die Hahnemann umsonst behandelt, und in den Vorzimmern zählte ich nicht weniger als 15 Personen.“ (zitiert bei Haehl 1922, II: 381). Dass in Hahnemanns Praxis damals nicht nur die Reichen und Berühmten, sondern Mittellose und weniger Begüterte behandelt wurden, bestätigt ein Brief Hahnemanns an seinen Schüler Dr. Ernst Stapf (1788-1860) aus dem Jahre 1838. „Im Laufe des letzten Halbjahres“, heißt es dort, „ist durch die große Zahl der Heilungen, die mir und meiner lieben Gattin gelungen sind, ein reges Interesse unter den jüngeren Ärzten für die Homöopathie wachgerufen worden. Meine Frau hat nämlich unter den Armen, selbst bei den gefährlichsten Krankheiten, mehr Heilungen erzielt, als mir unter den Reichen gelungen sind. 10 bis 20 Kranke füllen täglich das Vorzimmer und selbst die Treppen unseres kleinen Hauses (sic! R. J.), das wir allein bewohnen.“ (zitiert bei Haehl 1922, II: 384). In einem nur zwei Jahre später verfassten Brief an den Geheimrat Heinrich August von Gersdorff (1793-1870) in Eisenach spricht Hahnemann sogar von 20 bis 40 armen Patienten, die täglich Mélanies Sprechstunde aufsuchen (Haehl 1922, II: 385). Auch vergisst Hahnemann in diesem Zusammenhang nicht das interessante Detail zu erwähnen, dass sich jeder Kranke, der nicht bettlägerig war, zu ihm in die Sprechstunde begeben musste. Hausbesuche – sowohl bei armen als auch bei reichen Patienten – machte Hahnemann auch in Paris weiterhin nur in Ausnahmefällen, bei bettlägerigen Kranken, und zwar in der Regel abends (Jütte 2005, 2008).

Doch zurück zu den prominenten Patienten. Unter den bekannten Persönlichkeiten, die Hahnemann während seiner Pariser Zeit behandelte, waren beispielsweise der Künstler David d’Angers (1788-1856), der Schriftsteller Eugène Sue (1804-1857), der Bankier James Meyer Rothschild (1792-1868) und der Geiger Niccolò Paganini (1782-1840).

Der berühmte Musiker traf am 21. Juni 1837 in Paris ein. Es war nicht sein erster Besuch in der französischen Metropole. In dieser Stadt hatte er bereits einige Jahre zuvor große musikalische Triumphe gefeiert. Allein sein erstes Pariser Konzert im Frühjahr 1831 hatte ihm über 19.000 Franc an Einnahmen beschert. Unter dem begeisterten Publikum in der Académie Royale de Musique waren viele Vertreter des musikalischen und intellektuellen Paris: Neben so bekannten Schriftstellern wie Eugène Delacroix (1798-1863), George Sand (1804-1876) und Théophile Gautier (1811-1872) waren auch die Komponisten Gioachino Rossini (1792-1868), Luigi Cherubini (1760-1842), Daniel-François-Esprit Auber (1782-1871), Giovanni Pacini (1796-1867) und Giacomo Meyerbeer (1791-1864) zugegen. Die Kritiker in der Seine-Metropole waren hellauf begeistert. Und wie bereits an anderen Stationen seiner Konzertreise durch ganz Europa waren auch in Paris seine musikalischen Erfolge von einigen kleineren unerfreulichen Episoden begleitet. Doch konnten diese seine Freude über die begeisterte Aufnahme bei der Pariser Gesellschaft nicht trüben. So kehrte er in den folgenden Jahren immer wieder gern in die Stadt an der Seine zurück.

Die erwähnte Reise nach Paris im Sommer 1837 stand nicht nur mit den üblichen Konzertverpflichtungen im Zusammenhang. Es war auch die Gründung eines musikalischen Salons mit dem publikumswirksamen Namen „Casino Paganini“ im Gespräch. Auf Bitte eines engen Freundes beteiligte sich Paganini sogar mit 30.000 Franc an der Finanzierung dieses Unternehmens, dessen Ende in einem finanziellen und persönlichen Debakel der begnadete Geiger damals noch nicht vorausahnte. Die Einweihung des „großen Saales für philharmonische Unterhaltung“ in der eleganten Rue de la Chaussée d’Antin war für Oktober 1837 vorgesehen. Doch musste das mit Spannung erwartete Eröffnungskonzert wegen der Erkrankung des Maestros „an der Luftröhre“ (Neill 1990: 307) verschoben werden.

Es geschah nicht zum ersten Mal in seiner Karriere, dass der berühmte Geiger indisponiert war und ein Konzert absagen musste. Bereits seit vielen Jahren befand er sich in ärztlicher Behandlung, konsultierte einen medizinischen Experten nach dem anderen, hörte immer wieder andere Diagnosen und wurde therapeutischen „Wechselbädern“ unterworfen (Franken 1991, III: 13ff.; Kerner 1986: 417ff.). Die Absage des Eröffnungskonzerts kam also für seine Pariser Freunde und Bekannten nicht überraschend; denn bereits kurz nach seiner Ankunft in Paris im Sommer 1837 fühlte sich der Virtuose wieder einmal derart körperlich heruntergekommen und von Beschwerden geplagt, dass er ärztlichen Rat suchte, und zwar bei keinem geringeren als bei dem Begründer der Homöopathie. Angesichts des Ansehens, das Hahnemann bereits nach kurzer Zeit in den gehobenen Kreisen der Pariser Gesellschaft genoss, dürfte es kaum überraschen, dass Paganini auf der Suche nach einem Arzt, der ihn von seinem hartnäckigen Leiden befreien konnte, auf Hahnemann stieß. Mit der Homöopathie (oder besser gesagt: mit einem Homöopathen) war er allerdings bereits früher in Verbindung gekommen, und zwar im Jahre 1828. Damals hielt er sich in Wien auf und litt immer noch unter den Folgen einer massiven Quecksilberbehandlung, die man ihm sechs Jahre zuvor angeraten hatte, vielleicht weil der behandelnde Arzt Syphilis vermutete. Neben vielen anderen Ärzten konsultierte der von Schmerzen gepeinigte Künstler auch den vom österreichischen Kaiser an die Josephs-Akademie berufenen Mediziner Dr. Matthias Marenzeller (1765-1854). Dieser erfahrene Militärarzt stand bereits seit langem der Homöopathie aufgeschlossen gegenüber und kämpfte wie Hahnemann gegen den Missbrauch des Aderlasses und Purgierens. Marenzeller riet Paganini damals aber nicht zu einer homöopathischen Behandlung, sondern gab ihm die Empfehlung, die starken Abführmittel, die dieser regelmäßig einnahm, abzusetzen und sich zur Kur nach Karlsbad zu begeben. Erst neun Jahre später sollte Paganini am eigenen Leib Erfahrungen mit der umstrittenen neuen Heilkunde machen.

Paganini hatte sich bei seinem erneuten Paris-Aufenthalt im Jahre 1837 zunächst bei einem englischen Advokaten namens Douglas Loveday, der am Place d’Orléans Nr. 4 wohnte, einquartiert. Paganini kannte nämlich dessen Tochter Clara, eine begabte junge Musikerin, die er unterrichtete und mit der er später auch das Eröffnungskonzert im „Casino Paganini“ bestreiten sollte. Und wie der Zufall es so wollte, gehörte Vater Loveday zu den ersten Pariser Patienten Samuel Hahnemanns, unter denen sich auffallend viele Engländer und Schotten befanden (Handley 2001:10). Bezeichnenderweise wohnte auch Dr. Simon Félix Camille Crosério (1786-1855), der zum engsten Hahnemann-Kreis in Paris gehörte, bei Loveday zur Untermiete. So kam denn Paganini wohl auf Empfehlung (wenn es einer solchen in diesem Fall überhaupt bedurfte) von Mr. Loveday oder Dr. Crosério zu Hahnemann in die Rue de Milan.

Wir können ziemlich sicher sein, dass Paganini als Patient Hahnemanns keine Vorzugsbehandlung bekam. Vermutlich musste auch er sich am 12. Juli 1837 zunächst im Wartezimmer (immerhin ein vornehmer Salon) gedulden, bevor er zum Altmeister der Homöopathie vorgelassen wurde. Hahnemann konnte es sich leisten, auch seine reichen und berühmten Patienten warten zu lassen. Was Paganini dem greisen Arzt anvertraute, als er schließlich im Sprechzimmer Platz nehmen konnte, war lange unbekannt (Jütte 1992). Die zahlreichen Paganini-Biographien erwähnen den Besuch bei Hahnemann entweder gar nicht oder nur am Rande, da man von der Existenz einer homöopathischen Krankengeschichte keine Kenntnis hatte.

Das Gespräch mit dem berühmten Kranken wurde – wie so häufig in dieser damals ungewöhnlichen homöopathischen „Gemeinschaftspraxis“ – von Mélanie bestimmt und gelenkt. Sie notierte akribisch Namen und Anschrift des Patienten. Die Berufsbezeichnung erübrigte sich in diesem Fall wohl aufgrund des Bekanntheitsgrades. Nur bei der Altersangabe scheint ihr ein Irrtum unterlaufen zu sein. Paganini war damals bereits 55 Jahre alt und nicht 50, wie im fünften französischen Krankenjournal irrtümlich festgehalten ist. Dass Paganini sein Alter zu niedrig angegeben hat – wie gegenüber seinem ersten Biographen – ist unwahrscheinlich, denn auch früher schon hatte er seinen Ärzten das richtige Geburtsjahr (1782 statt 1784) nie verschwiegen. Es kann also sein, dass Mélanie ihn vielleicht falsch verstanden hat oder ihr ein Schreibfehler unterlaufen ist. Wie von Hahnemann im Organon mustergültig beschrieben, folgt nach der Erhebung der Patientendaten die in der homöopathischen Praxis so detailliert ausfallende Anamnese, bei der vor allem der Kranke das Wort hat. Und so besitzen wir eine ausführliche Krankengeschichte von Paganini, die zunächst noch von Mélanies Hand stammt, dann aber vom Meister selbst weitergeführt worden ist. Die Eintragungen sind kein wortwörtliches Protokoll des Gesprächs zwischen Arzt und Patient, sondern fassen die Angaben des Kranken zusammen, und zwar in der Reihenfolge, in der sie geäußert wurden, wobei Hahnemann zumindest in der Theorie großen Wert darauf legte, dass alles „mit den nämlichen Ausdrücken auf(geschrieben wird), deren der Kranke und die Angehörigen sich bedienen“ (Hahnemann 1992a: § 84). Im Falle Paganinis sah das Bild der Krankheit, das so vor den Augen des homöopathischen Arztes entstand, wie folgt aus:

„Die Nerven und die Einbildungskraft wurden stark überanstrengt = im Alter von 14 und 16 Jahren anfällig – hustete oft – zuvor und später hat er sich überanstrengt und von 12 Jahren an begann er zu husten dann 4 Blutegel an den After, das nahm ihm den Husten für einen Monat – und er ist von dieser Zeit an immer noch geblieben. Dann hat man ihm mehrmals sehr viele Blutegel an die Seite der Leber gesetzt, danach 5 Monate lang quecksilberhaltige Einreibungen, die ihm die Zähne ruinierten, die verdorben sind – ein langer Speichelfluss – und es schädigte die Augen. Danach eine 3-monatige Milchdiät, wovon er sehr zunahm. Aber je besser er sich fühlte, umso mehr und stärker spürte er den Husten. Wenn er einen kleinen, sich häufig wiederholenden Husten hat, dann hat er keine starken Anfälle.“ (Hahnemann 1992b: 179).

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Literaturangaben
De Courcy, G.I.C.: Paganini. The Genoese, 2 Bde. Norman/Oklahoma 1957.
Franken, F.H.: Die Krankheiten großer Komponisten, Bd. 3, Wilhelmshaven 1991.
Haehl, R.: Samuel Hahnemann: sein Leben und Schaffen, 2 Bde. Leipzig 1922.
Hahnemann, S.: Krankenjournal DF5 (1837-1842). Transkription und Übersetzung von Arnold Michalowski. Heidelberg 1992 (Hahnemann 1992b).
Hahnemann, S.: Organon der Heilkunst. Textkritische Ausgabe der 6. Auflage. Bearb. und hrsg. von Josef M. Schmidt. Heidelberg 1992.
Handley, R.: Auf den Spuren des späten Hahnemann. Hahnemanns Pariser Praxis im Spiegel der Krankenjournale. Aus dem Englischen von Werner Bühler. Stuttgart 2001.
Jütte, R.: Samuel Hahnemann. Begründer der Homöopathie. München 2005.
Jütte, R: Die Arzt-Patient-Beziehung im Spiegel der Krankenjournale Samuel Hahnemanns. In: Arztpraxen im Vergleich: 18.-20. Jahrhundert, hrsg. von Elisabeth Dietrich-Daum, Martin Dinges, Robert Jütte, Christine Roilo. Innsbruck, Wien, Bozen 2008: 109-127.

Jütte, R: Paganinis Besuch bei Hahnemann. In: Allgemeine Homöopathische Zeitung 1992, 237: 191-200.
Kerner, D: Die Krankheiten großer Musiker, 4. Aufl. Stuttgart, New York 1986.
Neill, E.: Paganini. Biographie. Aus dem Italienischen von Cornelia Panzacchi. München 1990.
Paganini, N.: Brief an Douglas Loveday vom 24.7.1838. In: Revue et Gazette Musicale de Paris 1832, 5, Nr. 32: 521-522.
Paganini, N.: Brief an Mélanie d’Hervillhy vom 3.9.1837 (Library of Congress, Washington D.C., Music Divsion).

Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. phil. Robert Jütte
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Straußweg 17
70184 Stuttgart



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Naturheilpraxis 03/2010