FACHFORUM

Neue Therapieansätze von Tinnitus auf der Basis von Otoneuroprotektiva und Glutamatantagonisten

Von Jens Bielenberg

„Ohrgeräusche stellen eines der häufigsten Krankheitssymptome überhaupt dar. Sie sind Zeichen einer Funktionsstörung im Hörsystem und können vielfältige Ursachen haben. Tinnitus ist eine Ton oder Geräuschsensation ohne ersichtliche äußere Schallquelle. Durch den Fortschritt des Verständnisses des physiologischen Hörvorgangs konnten in den letzten Jahren rationale Therapiegrundlagen bei Tinnitus erarbeitet werden. Eingesetzt werden Rheologika, neuronale Transmittersubstanzen und Membranstabilisatoren.

Tinnitus ist keine Krankheit, sondern ein Symptom, hinter dem sich verschiedene Ursachen verbergen können. Ca. 15 % der Bevölkerung weisen zum Teil intermittierend Ohrgeräusche auf. 8 % leiden unter einem ständig vorhandenem Ohrgeräusch. Etwa 0,5 % der Bevölkerung ist durch Tinnitus erwerbs- und berufsunfähig. Sekundäre Krankheitsfolgen wie Schlaflosigkeit, Angstzustände und Depressionen mit Suizid kennzeichnen den Circulus vitiosus. Objektive Ohrgeräusche, bei denen das normal funktionierende Ohr Geräusche wahrnimmt, die tatsächlich pathologischerweise vorhanden sind, lassen sich nur beseitigen, indem die zugrundeliegende Krankheit behandelt wird (z.B. Bluthochdruck oder Arteriosklerose, Medikamente oder arterielle Stenosen nach Erkrankungen) Subjektive Ohrgeräusche, die bisher objektiv nicht registrierbar sind, können durch Mittelohrerkrankungen hervorgerufen werden (z.B. Tubenmittelohrkatarrh) sind jedoch häufig Folge einer Innenohrerkrankung (z.B. Knalltrauma, Hörsturz) oder eine Funktionsstörung der Hörnerven.

Im Vordergrund stehen beim akuten Tinnitus durchblutungsfördernde Maßnahmen, während beim chronischen Tinnitus Calciumantagonisten, Antiarrhymika, Antikonvulsiva und Antidepressiva angewendet werden. Die Mehrzahl der akuten sowie viele der chronisch Tinnitus Betroffenen können geheilt werden bzw. die Symptomatik verbessert werden. Daher wandelt sich der Tinnitus heutzutage von der „Crux medicorum“ zum rational analysierbar und behandelbarem Problem. In jüngster Zeit häufen sich Berichte in der internationalen medizinischen Literatur, dass der im Zentralnervensystem weitverbreitete Neurotransmitter Glutamat an der Pathogenese des Tinnitus beteiligt ist. Die zunehmenden klinischen Erfolge mit selektiven Glutamatantagonisten in der Tinnitustherapie bestätigen die diesen Therapiekonzepten zugrundeliegenden Arbeitshypothesen. Der folgende Artikel vermittelt Grundlagen über die Pathogenese des Tinnitus und versucht Störungen des Glutamatstoffwechsels als potentielle Auslöser zu demaskieren. Tinnitus, ausgelöst durch Arzneimittel, liefert interessante Anhaltspunkte, dieser „Volkskrankheit“ auf die Spur zu kommen.

Allgemeine Grundlagen

Pathophysiologie der Ohrgeräusche

Objektive Ohrgeräusche können vaskuläre oder muskuläre Ursachen haben. Im Bereich des Mittelohres sind es insbesondere Spasmen und unwillkürliche Kontraktionen von Muskulus tensor tympani und stapedius. Die Tubenöffnungsmuskulatur im Bereich des Gaumen kann durch Myoklonien zu ähnlich klickenden Geräuschen führen. Ursachen sind meist extrapyramidal-motorische Störungen bei verschiedenen neurologischen Erkrankungen, zum Beispiel bei postencephalitischen Zuständen und bei Psychopharmakaabusus. Die Geräusche haben meist klickenden, seltener rumpelnden Charakter (1).

Zischende Geräusche sind oftmals vaskulärer Genese bedingt durch Gefäßanomalien, arteriosklerotische Veränderungen der Arteria carotis interna, arteriovenöse Fisteln, Glomustumoren des Mittelohres sowie Abflussstörungen des zerebralen Sinus. Atemsynchrone Ohrgeräusche kommen bei klaffender Tube vor, da respiratorische Strömungsphänomene über die Tube in das Mittelohr übertragen werden.

Den meisten Hörstörungen liegen Fehlfunktionen äußerer Haarzellen zugrunde. Aufgrund ihres großen Sauerstoffverbrauchs sind sie sehr empfindlich gegenüber verschiedenen Schädigungsmechanismen wie ototoxischen Medikamenten, Lärm, Alterseinflüssen und direkter mechanischer Schädigung. Geschädigte Haarzellen können unkontrollierte Kontraktionen ausführen und damit die zugehörigen inneren Haarzellen stimulieren, wodurch Nervenaktionspotentiale ausgelöst und zum Hirn weitergeleitet werden. Innere Haarzellen können ebenfalls als Tinnitusgenerator infrage kommen. Die für die normale Funktion notwendigen Ionenkanäle können bei pathologischen Zuständen permanent aktiviert und offen sein, so dass sogenannte Leckströme auftreten. Diese Leckströme setzen ständig Transmitter frei und erzeugen damit Aktionspotentiale, wie Abb. 1 veranschaulicht (2). Abb. 2 zeigt, wie die peripheren Tinnitusmechanismen im Bereich der zentralen Hörbahn zu kreisenden elektrischen Erregungen führen, deren repetetive Aktivität einen Kreisprozess bildet, der sich selbst unterhält. So ist verständlich, dass Ohrgeräusche auch nach Zerstörung des Innenohres oder nach Durchtrennung des Hörnerven weiter bestehen.

Abbildungen siehe Naturheilpraxis 03/2010

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Abkürzungen:
IHC: inneren Haarzellen
OHC: Haarzellen des Innenohres
NMDA: N-Methyl-D-Aspartatat
GABA: Gamma –Amino-Buttersäure

Literatur:
1 Lenarz, T: Ohrgeräusche, Med.Mo.Pharm,14(10),1991:292-300
2 Feldmann, H: Pathophysiology of Tinnitus. In:Kitahara, M: Tinnitus. Pathophysiology and management 7-35, Igaku-Shoin, Tokyo/New York 1988
3 Ehrenberger, K; Brix R: Glutamic acis and glutamicacid diethylester in tinnitus treatment, Acta otolaryngol 1983;95:599-605
4 Heiniger-Bürki, CB; Ehrenberger, K; Felix, D: Is nitric oxyd involved in the inner ear neurotransmission? Primary Sensory neuron, in press.
5 Udilova, N; Kozlov, AV; Bieberschulte, W; Frei, K; Ehrenberger, K; Nohl, H: The antioxidant activity of caroverine, Biochem Pharmacol 65(1):59-65,2003, Arzneimittelwechselwirkungen, 3. Auflage, S. 28, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart 1991
6 Ehrenberger, K: Topical administration of Caroverine in somatic tinnitus treatment proof of concept study. Int Tinnitus J 11(1):34-7(2005)
7 Effects of diverse omega-conopeptids on the in vitro release of glutamic and gamma-Aminobutyric acids, Brain Research 1994;638;95-102.
8 Claussen, E und C; Patil, NP: On the effect of magnesiumaspartat in the neurootological therapy for vertigo and tinnitus, Excerpta medica 1988 529-32
9 Ehrenberger, K; Denk, DM, Felix, D: Rezeptorpharamkologische Modelle für eine kausale Tinnitustherapie, Otorhinolaryngol Nova 1995;5:148-1529)
10 Ehrenberger, K; Brix R: 1Glutamic acid and glutamicacid diethylester in tinnitus treatment, Acta laryngol 1983;95:599-605 receptor pharamacological models for inner ear therapies
11 Huxtable: Taurine in Central nervous system an d the mammalian actions of Taurine Progress in Neurobiology 1989,32:471-533
12 Oestreicher, E; Arnold, W; Ehrenberger, Klaus, Felix, D: Memantine supress the glutamatergic Neurotransmission of Mamillian inner Hair cells Otorginolaryngal 1998,60:18-21
13 Lenarz, T; Schwab, B: Caroverin –Infusion HNO 1998;46:73
14 Melding, PS; Goodey, RJ; Thorne, PR: The use of intravenous Lignocain in the diagnosis and treatment of Tinnitus, J Laryng Otol 1978,92:115-121
15 Wilhelm, T; Seidl, R; Ernst, A: Rationale Grundlagen der Tinnitus-Therapie, Med Monatsschrift Pharm 1998,21(11):336-34

Anschrift des Verfassers:
Jens Bielenberg
Apotheker
Bahnhofstr.53
25364 Westerhorn



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