Therapeut / Patient

Goethes medizinische Einsichten – heute aktueller denn je: Ein Leibarzt muss zu allem taugen ...

Von Werner Sydow

Johann Wolfgang von Goethe – Dichter –Staatsmann – Naturforscher, dessen 260. Geburtstag wir am 28. August begehen, hat sich schon in jungen Jahren mit der Medizin beschäftigt. Sein Interesse galt besonders der Anatomie, die ihm den Blick für das ganze öffnete. Ganz im Sinne von Hippokrates stellte er an die Ärzte sowie an sich selbst höchste Ansprüche. Produktiv, mitfühlend, fürsorglich sollen sie sein. Immer das Ganze im Auge behalten, so wie man es in den Bädern des alten Rom lesen konnte:

Non hic curatos, qui curat

Hier wird keiner gesund, der Sorgen hat. Von dieser Ganzheitsauffassung sind wir heute weiter denn je entfernt.
Überfüllte Praxen, lange Wartezeiten der Kassenpatienten bei Überweisung zu einem Facharzt, gestresste Ärzte und Krankenschwestern in Krankenhäusern, viel zu wenig Zeit für den Patienten (1). Zunehmende Rationierung von Leistungen infolge der Budgetierung der Ausgaben. Ca.35,-Euro stehen den praktizierenden Ärzten pro Patient und Quartal zur Verfügung, wohlgemerkt für das ganze Quartal. Wen wundert es, dass die Kommunikation zwischen Arzt und Patient hinten ansteht,“ je kranker der Patient, desto weniger Aufmerksamkeit bekommt er von seinen Ärzten“. (2)

Nur drei Prozent der finanziellen Mittel im Gesundheitswesen gehen heute in die Prävention. Zunehmende Bürokratisierung, in einem Wort: Das deutsche Gesundheitssystem fährt gegen die Wand.

Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe beklagt den Zustand, dass die Ärzte immer mehr „zu Dienstleistern in einem industrialisierten Medizinbetrieb“ werden. (3)

Die Fünfminutenmedizin kann den Patienten nicht im Sinne Goethes Grundüberlegung: dass „die Medizin den ganzen Menschen beschäftigt, weil sie sich mit dem ganzen Menschen beschäftigt“ (4) behandeln.

Zuhören muss er können – der Arzt, aufklären, helfen. Wo ist heute der mitfühlende Arzt, den Goethe z.B. in seinem Schau- und Singspiel „Lila“ in dem Arzt Verazio abbildete. Goethe, für den der beste Arzt gleich Freund sein sollte, der „in verzweifelten Fällen wohl noch ein Hoffnungsrezept verschreibt“ (5), hat sich immer gern freundschaftlich mit seinen Ärzten unterhalten.

Was vermag ein guter Arzt, der den Eid des Hippokrates geschworen hat?
Er kann durch sein Verhalten, sein Denken und Mitfühlen wesentlich dazu beitragen, Selbstheilungskräfte anzuregen. Wir sprechen heute von der Droge Arzt, die aufgrund des Zeitdrucks und der zunehmenden Ökonomisierung im Gesundheitswesen nicht mehr wirkt.

„Es ist unglaublich, wie viel der Geist zur Erhaltung des Körpers vermag. Ich leide oft an Beschwerden des Unterleibes, allein der geistige Wille und die Kräfte des oberen Teiles halten mich im Gange. Der Geist muss nur dem Körper nicht nachgeben! „So unterhielten sich Eckermann und Goethe am 21. März 1830. (6) Die Römer prägten den Satz: Mens agitat molem, der Geist bewegt die Materie. Immer gilt es in der Medizin das Zusammenspiel von Geist und Körper zu beachten. Der menschliche Geist kann sehr viel erreichen, insbesondere bei einem Heilungsprozess den inneren Arzt zu unterstützen, vorausgesetzt der Patient ist bereit, Verantwortung für seine Gesundheit zu übernehmen. Eine psychische Störung auf Dauer führt mit Sicherheit zu Organstörungen. Umgekehrt können kranke Organe die Psyche stark in Mitleidenschaft ziehen.

Zu Goethes Zeit hielt sich die Mehrzahl der Ärzte immer an die Regel des Philosophen Seneca (4 v.Ch.- 65 n.Ch.), dass eine richtige Behandlung einfach sein muss, eine mannigfaltige falsch ist und Störungen bedingt. Nichts ist schädlicher für den Kranken als der häufige Wechsel von Arzneien. In einem Brief von Charlotte Schiller an Karoline von Humboldt können wir lesen (22. März 1823): „Er (Goethe) lobte die konsequente Behandlung seiner Ärzte und sagte, dass die vierzehn Tage auf einem Mittel beharrt hätten.“ (7) Wenn man bedenkt wie viel älteren Menschen heute täglich sechs bis sieben Mittel verschrieben werden, kann man sich die Nebenwirkungen ausrechnen. Im Alter ist der Körper sehr sensibel, bei vielen Wirkstoffen erhöht sich die Wechselwirkung chemischer Substanzen. Studien besagen, dass Komplikationen durch Arzneimittel zu den häufigsten Todesursachen zählen. Sehr oft, besonders in Altenheimen, wird nicht sorgsam genug dosiert.

Goethe hat sich von Jugend an für die Medizin begeistert. Neben seinen juristischen Studien hat er sich immer wieder der Medizin zugewandt. Er besuchte regelmäßig Anatomievorlesungen in Leipzig, Strassburg und Jena.

So schreibt Karoline Herder an ihren Mann am 23. November 1788 „Goethe und Knebel sind gestern von Jena gekommen .... Goethe hat den ganzen menschlichen Körper durchgenommen bei Loder (Anatom) und ist sehr heiter....“ (8) Enge Verbindungen gab es auch zur Universität Halle, wo er befreundet war mit den Professoren Johann Christian Reil (Mediziner), Wilhelm Gilbert (Physiker) u.a. Übrigens – Halle nannte er die vielgeliebte Stadt.

1784 entdeckte Goethe den menschlichen Zwischenkieferknochen, eine große wissenschaftliche Leistung. Auf Vorschlag Alexander Humboldts wurde Goethe 1806 Mitglied der damaligen Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1818 Mitglied der Leopoldina, der Akademie der Naturforscher. 1825 erhielt er von der Universität Jena den Dr. hc. med. verliehen.

Goethe, der in seinem Leben sehr anfällig für Krankheiten war, vom Blutsturz über Gicht und Nierensteinen, bis hin zum ersten Herzinfarkt 1823, der viel Krisen und heftige Leidenschaften überwinden musste, den Tod seines Förderers Carl August, der Herzoginmutter Anna Amalia, seiner Frau Christiane, des Sohnes August, des Dichters Friedrich Schiller, die Trennung von Ulrike von Lewetzow, war als Patient stets auf die Hilfe seiner Ärzte angewiesen, mit denen er auch privat Kontakte pflegte. So schrieb Christoph Wilhelm Hufeland – über zehn Jahre behandelnder Arzt von Goethe – lieber als über seine Symptome „unterhielt er sich mit dem Arzt als Naturforscher und so genoss ich bei ihm manche Stunden der interessanten Mitteilung, Belehrung und geistiger Erweckung“. (9) Diese guten Erfahrungen mit seinen Ärzten verarbeitete er in Faust II (Paralipomena- Bruchstücke 136):

„Ein Leibarzt muss zu allem taugen,
Wir fingen bei den Sternen an
und endigen mit Hühneraugen“

Sein letzter Arzt Dr. Carl Vogel schrieb über ihn „die Heilkunst und ihre echten Jünger schätzte Goethe ungemein hoch ... Er war ein sehr dankbarer und folgsamer Kranker. Gern ließ er sich in seinen Krankheiten den physiologischen Zusammenhang der Symptome und den Heilplan auseinandersetzen.....Konsultationen mehrerer Ärzte betrachtete er mit misstrauischen Blicken und dachte darüber wie Moliere“. (10)

Goethe hält auch nicht mit Ratschlägen an seine Ärzte zurück, als er im Februar 1823 sehr schwer erkrankt war, sprach er zu seinem Arzt Dr. Rehbein: „Ihr seid zu furchtsam mit Euren Mitteln, Ihr schonet mich zu sehr! – Wenn man einen Kranken vor sich hat, wie ich es bin, so muss man ein wenig napoleonisch mit ihm zu Werke gehen. „Im Gespräch mit Eckermann heißt es dann weiter:“ Er trank darauf eine Tasse seines Dekokts von Arnika, welche gestern, im gefährlichsten Moment von Huschke angewendet, die glückliche Krisis bewirkt hatte. Goethe machte eine graziöse Beschreibung dieser Pflanze und er hob ihre energetischen Wirkungen in den Himmel!“ (11)

Besonders wohl fühlte sich Goethe in den Kurorten. Über drei Jahre seines Lebens hat Goethe in den böhmischen Bädern zugebracht. Die heilende Kraft der Quellen in Karlsbad haben es ihm besonders angetan. Ihnen sei er „eine ganz andere Existenz schuldig“. Wobei die schönen Damen der Aristokratie wohl auch ihr Teil dazu beigetragen haben. Noch heute kann man in Karlsbad auf der Kurpromenade seine Liebe zu dieser Stadt erkennen. In Stein gemeißelt steht dort geschrieben:

Was ich dort gelebt, genossen,
Was mir all dorther entsprossen
Welche Freude, welche Kenntnis,
Wär’ ein allzu lang Geständnis!
Mög’ es jeden so erfreuen,
Die Erfahrenen, die Neuen!

Seine zwei eigentlichen geheimen Sanitätsräte hießen Luft und Bewegung. Selbst als Hochbetagter spazierte er täglich an der Ilm entlang. Seit seiner Jugend war Goethe ein Wanderer. Über 40.000 Kilometer war er zu Fuß, zu Pferd und mit den Kutschen unterwegs. Reiten, Tanzen, Fechten, Schwimmen, Bergsteigen machten ihm Vergnügen. Körperliche Trägheit war ihm verhasst. Er sah sie als eine Krankheitsursache an. (12)

All das förderte letzten Endes eine Konstitution, durch die er seine vielen Krankheiten überstehen konnte. Seine „Selbsttherapie ist die dichterische Produktion selber. Ob Werther, Egmont, Clavigo, Tasso, Faust und erst recht die Marienbader Elegie, immer werden damit die existenzbedrohenden Beengungen abgestreift. (13) Im Gespräch mit Eckermann am 27.1.1824 äußerte er:

„Mein eigentliches Glück war mein poetisches Sinnen und Schaffen“. (14)

Goethe stellte hohe Forderungen an sich selbst, besonders im Alter: „Wenn man alt ist, muss man mehr tun, als da man jung war.“ (15) Schon einen Tag im Voraus plante er das neue Tagewerk. Von morgens bis abends wurde gearbeitet, selbst an Feiertagen ließ er seine Arbeit nicht ruhen. Ausnahmen waren die Gespräche mit seinen Gästen, wobei er allerdings die „produktiv machenden Kräfte“ Schlaf und Bewegung hoch schätzte. Alles in allem hatte Goethe einen sehr starken Lebenswillen. In seinem Gedicht aus Divan-Einlass klingt es fast wie ein Selbstbekenntnis:

„Nicht so vieles Federlesen! Lass mich immer nur herein:
Denn ich bin ein Mensch gewesen
Und das heißt ein Kämpfer sein“ (16)

...

Literatur:
1) Berliner Zeitung 4.5.08
2) Spiegel Spezial Nov. 07
3) Berliner Morgenpost 20.5.09
4) Frank Nager: Goethe der heilkundige Dichter (Innenseite)
5) Kampagne in Frankreich 11.10.1792
6) Eckermann Gespräche mit Goethe 21.3.1830
7) Goethe in vertraulichen Briefen Band III S. 145
8) Goethe in vertraulichen Briefen Band I S. 371
9) Hans Bankel: Der Rest ist nicht Schweigen S. 172
10) Hans Bankel: Der Rest ist nicht Schweigen S. 194
11) Eckermann Gespräch mit Goethe 24.2.1823
12) Hans Bankel: Der Rest ist nicht Schweigen S.192
13) Wolfgang Schad in Goethe und Heilkunst S. 131
14) Eckermann Gespräche mit Goethe 27.1.1824
15) Maximen und Reflektion 521
16) Divan Buch des Paradieses-Einlass 1820

Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. Werner S. Sydow
Berliner Str. 2
15566 Schöneiche b. Berlin



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Naturheilpraxis 01/2010