Therapeut / Patient

Das heilende Moment der Begegnung

von Falk Fischer

Die häufigsten Erkrankungen, denen man heute in Praxen begegnet, sind Zivilisationskrankheiten (Herz- und Gefäßkrankheiten, Diabetes mellitus Typ 2, Bluthochdruck, Übergewicht, Gicht, bestimmte Hauterkrankungen, versch. Allergien, bestimmte psychische Erkrankungen etc.). Abgesehen vom massiven Einzug der Technik in sämtliche Lebensbereiche besteht ein wesentlicher Unterschied gegenüber vorzivilisatorischen Kulturen darin, dass das Leben damals vergleichsweise gegenstandsarm gestaltet war und sich in einem schmalen Umfeld „gegenwartsstarker Akte“ aufbaute. Dieses Verhältnis hat sich mit der Zivilisation umgekehrt. Die Erfahrung von Präsenz, Gegenwärtigkeit, Begegnung, die die ganze Personbildung prägt, seelisch wie physisch, ist stark zurückgedrängt zugunsten des Umgangs mit Gegenständen, Fakten, Inhalten, die nicht in lebendige Resonanz mit der Person treten können. Schon bei Pflanzen ist das anders. Martin Buber, der tiefgründig wie kein anderer in seiner Schrift „Ich und Du“ das Wesen von Beziehung ergründet hat, schreibt dazu: „Kein Eindruck ist der Baum, kein Spiel meiner Vorstellung, kein Stimmungswert, sondern er leibt mir gegenüber und hat mit mir zu schaffen, wie ich mit ihm – nur anders“. Alles Belebte, was „gegenüber leibt“, vermag den Menschen anzurühren und dadurch bis in die Tiefe seiner physischen Konstitution zu wandeln. Momente der Gegenwärtigkeit sind Momente er-lebten Lebens, Leben schlechthin. Es sind heilige Momente – als solche werden sie erlebt – und heilende Momente.

Was zunächst einmal nur metaphorisch anmutet, lässt sich mittlerweile auch sehr exakt in die Sprache der Physik übersetzen (sehr gut dargestellt z.B. bei Th. Görnitz: „Die Evolution des Geistigen“ [2]). Physikalisch betrachtet sind Lebewesen kohärente Systeme. Das heißt nichts anderes, als dass die linke Hand immer weiß, was die rechte tut, oder genauer gesagt, dass jede Zelle jederzeit über ihren eigenen inneren Zustand wie auch den Zustand des nächst höheren Systems (des Organs, dem sie angehört) „informiert“ ist. Zerbricht die Kohärenz, entsteht Krankheit.

Die Kohärenz ist notwendig bildhafter Natur, d.h. die „Informationen“ sind überall gleichzeitig präsent. Zwar folgt jedes Einzelmolekül weitestgehend irgendwelchen Zufallsbewegungen, kollektiv aber bildet sich eine sehr solide, selbsterhaltende Ordnung heraus (vergleichbar individuell handelnden Menschen in einem Kulturraum). Dieser kollektive Resonanzboden ist somit nie am Einzelmolekül oder an singulären Prozessketten ablesbar, sondern tritt nur als ganzheitliche Eigenschaft des gewachsenen Systems oder Subsystems hervor. Die Staffelung von Subganzheiten zu immer größeren und differenzierteren Ganzheiten heißt Holarchie (eine Wortverknüpfung von Holon = Ganzheit und Hierarchie).

Die Holarchie endet nicht an der Hautgrenze. Sie setzt sich vielmehr fort in der Begegnung mit anderen „mitschwingfähigen Systemen“. Der heilende (und heilige) Moment der Begegnung ist das plötzliche Resonantwerden, in dem alle Einzelaspekte für einen unscheinbaren Augenblick der Gegenwärtigkeit verschwinden und die bis dato gewachsene kohärente Ordnung aufgeht in einer erweiterten, umfassenderen vollständigeren Kohärenz. Buber beschreibt dies so: „Es gibt Augenblicke des verschwiegenen Grundes, in denen Weltordnung geschaut wird, als Gegenwart. Da wird im Flug der Ton vernommen, dessen undeutbares Notenbild die geordnete Welt ist. Diese Augenblicke sind unsterblich, diese sind die vergänglichsten: kein Inhalt kann aus ihnen bewahrt werden, aber ihre Kraft geht in die Schöpfung und in die Erkenntnis des Menschen ein, Strahlen ihrer Kraft dringen in die geordnete Welt und schmelzen sie wieder und wieder auf.“

In die wissenschaftliche Begrifflichkeit zurückübersetzt, heißt das, dass Leben ein fortgesetzter Erkenntnisprozess ist auf unterschiedlichsten Ebenen der Holarchie. Jede Zelle „erkennt“ welche Stoffe sie benötigt und aufzunehmen hat und welche sie aussondern muss, das Immunsystem unterscheidet eigen von fremd, und auf personaler Ebene gilt es, sich selbst zu erkennen, sich in seiner unverwechselbaren Eigenheit hervorzubringen und zu erfüllen in Begegnung mit der nächst übergeordneten Ebene, dem sozialen Umfeld. Alle diese Prozesse sind gleichermaßen mit der physischen Gesundheit innigst verwoben, wenn auch in jeweils sehr unterschiedlicher Charakteristik und Spezifität bzw. Subtilität.

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Literaturhinweise:
(1) M. Buber: Das dialogische Prinzip; „Ich und Du“, 11. Aufl., Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 2009
(2) Roger Kalbermatten: Wesen und Signatur der Heilpflanzen. Die Gestalt als Schlüssel zur Heilkraft der Pflanzen. AT Verlag, Aarau (Schweiz) 2002

Korrespondenszadresse:
Dr. rer. nat. Falk Fischer
Wissenschaftsjournalist, Arbeit am Tonfeld®
Ernst-Menne-Weg 6
57076 Siegen
E-Mail: FalkFischer@web.de
Homepage: www.falkfischer.com



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Naturheilpraxis 01/2010