FACHFORUM

Einfache Schmerzstillung in der modernen Naturheilpraxis:

Fast vergessene Handgriffe des Dr. med. Otto Naegeli

Von Matthias Engel

Für Otto Naegeli, geboren am 22. September 1843 in Oberneunforn (heute Gemeinde Neuforn) als Sohn des Arztes Johannes Naegeli und dessen Frau Susanna, war der Weg seines Lebens in damaliger Familientradition vorbestimmt. So studierte er nach der Matura Medizin in Zürich, Würzburg, Prag und Bern und eröffnete im Jahre 1867 seine Praxis im Kanton Thurgau, im Dorf Ermatingen (heute gemeinsam mit Triboltingen Gemeinde Ermatingen). Bis zu seinem Tod am 18.12.1922 und darüber hinaus wäre der Name Otto Naegeli in der Fachliteratur gewiss nicht weiter erwähnt worden, wenn den Landarzt nicht eine Unzufriedenheit über die bestehende Medizin des ausgehenden 19. Jahrhunderts geplagt hätte, die sich in der zunehmenden Ablehnung von Pharmazie und einer eklatanten Distanzierung zur bestehenden Zellularpathologie äußerte (4). Er suchte, wie alle rührigen Therapeuten, eine einfache und effiziente Behandlungsweise, um die Patienten schnell und nachhaltig von deren Schmerzen zu befreien. Diese Methode fand der Landarzt in den von ihm entwickelten Handgriffen und Dehnungen, die „zu jeder Zeit, allerorts und von jedem Einzelnen ohne Kunstfertigkeit“ (5) Anwendung finden konnten.

In der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Manuelle Medizin (SAMM) wird Naegeli gern als Pionier der Manuellen Medizin bezeichnet und liest man das Vorwort in der 4ten Auflage seines Werkes „Nervenleiden und Nervenschmerzen ihre Behandlung und Heilung durch Handgriffe“, kann dies gewiss auch als Eventualität angenommen werden. Selbst die amerikanischen Chiropraktiker sehen in ihm eine wichtige Person in der Entwicklung der Manuellen Medizin, wie dem Zitat von Samuel Homola, D.C. zu entnehmen ist: „Dozens of other physicians, it is true, gave some attention during the nineteenth century to spinal irritation, but no other, to our knowledge ever attempted mechanical correction with the single exception of the Swiss physician Otto Nageli (1894). The others relied upon chemical counter-irritation applied to the focus of irritation.“ (8).

Werden die Naegelischen Handgriffe genauer betrachtet, sind unverkennbare Ähnlichkeiten mit chiropraktischen Manipulationen und Techniken der viszeralen, beziehungsweise cranio-sakralen Osteopathie zu erkennen. Wer nun allerdings letztendlich den Weg für die Manuelle Medizin ebnete, A.T. Still, der Begründer der Osteopathie, D.D. Palmer, der Begründer der Chiropraktik, oder Naegeli selbst mit seinen Handgriffen, ist wohl mehr medizinhistorischer Diskussionsstoff als für die eigentliche Wirksamkeit der gesamten Manuellen Medizin beweisend. Es spiegelt vor allem eines wider: dass viele Wege zur Wahrheit führen und Genies an allen Orten der Welt zu finden sind.

Dass die Techniken des Schweizers, der nebenbei als Mundartdichter und Volksgeschichtler wirkte, fast in Vergessenheit gerieten, möge allerdings nicht auf die Unwirksamkeit oder Unpraktikabilität derselbigen als vielmehr auf das Aufkommen der apparativen Medizin und dem zur damaligen Zeit nicht vorhandenen Interesse der deutschsprachigen Ärzteschaft an derartigen Behandlungsweisen geschoben werden. Dieses Desinteresse wurde erst durch die Gründung der Schweizer Ärztegesellschaft für Manuelle Medizin (SAMM) 1959 und in Deutschland durch Dr. Karl Sell und seiner Gesellschaft der Ärzte für Manuelle Wirbelsäulen- und Extremitätentherapie (MWE) sowie der Forschungsgemeinschaft für Arthrologie und Chirotherapie (FAC) unter Leitung von Dr. Gottfried Gutmann, deren Zusammenschluss 1966 zur Gründung der Deutschen Gesellschaft für manuelle Medizin (DGGM) führte, aufgehoben. Zuvor lag die Ausübung manueller Manipulationen und Mobilisationen am Bewegungsapparat überwiegend in den Händen von Laien, wie Badern und Schäfern.

Die Handgriffe, welche Naegeli vor deren Veröffentlichung fast 15 Jahre lang in seiner Praxis erprobte, standen auf einem Theoriegebilde, das vielen naturheilkundlichen Methoden entspricht; so ging er kausal von einer Zirkulationsstörung des Blutes in der schmerzenden Region aus. Wie spätestens seit Pischinger bekannt ist, resultieren aus derartigen Störungen Probleme im Metabolismus der Zellen und des Interstitiums, die wiederum Entzündungsmediatoren freisetzen und in Schmerzzuständen enden, welche abermals die Zirkulation negativ beeinflussen. Gelingt es nun die Durchblutung im betroffenen Gebiet wieder herzustellen, kann der Circulus vitiosus des Schmerzes dauerhaft durchbrochen werden. Nach Naegeli, dessen Griffe überwiegend Indikationen bei Beschwerden der Kopfregion besitzen, wird die aus der Zirkulationsstörung resultierende Blutfülle oder Blutleere mechanisch behoben. „Durch einen S-förmig gekrümmten Schlauch fließt nach dem Gesetze der Statik eine Flüssigkeitsmenge langsamer als in einem geraden Rohre wegen der vermehrten Reibung an den Wandungen des gebogenen Kanals.“ (6).

Hierbei ging er vor allem von einer S-förmigen Krümmung der zum Kopf auf- und absteigenden Gefäße aus, die durch die Last des Kopfes und arteriosklerotische Veränderungen noch zusätzlich komprimiert werden, beziehungsweise ein geringes Lumen aufweisen. Dem Gesetz der Statik und Mechanik zufolge müssen also die Gefäße gerade verlaufen, um ein optimales Gefälle und somit einen besseren Abfluss zu gewährleisten.

Vor diesem Hintergrund entwickelte Naegeli seine ersten Handgriffe, die vornehmlich auf einer Streckung des Halses um 3-5 cm aufbauten. „Die Gesetze der Statik und der Schwere beherrschen den lebenden Körper wie den leblosen Gegenstand, sie können daher ohne Bedenken auf unseren Fall angewendet werden: Die Schlussfolgerung, welche wir aus ihnen ziehen, muss uns das am Menschen unmögliche Experiment ersetzen.“ (6).

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Literatur:
(1) BILZ, F.E.: Das neue Naturheilverfahren. Bilzverlag, Leipzig 1894
(2) Bischoff, H.P.: Chirodiagnostische und chirotherapeutische Technik. 4. überarbeitete und erweiterte. Spitta- Verlag, Balingen 2002
(3) HEYLL, U.: Die Handgriffe Otto Naegelis. IN: Schweizerische Ärztezeitung 2005; 86: Nr. 36, S. 2101- 2105
(4) NAEGELI, O.: Behandlung und Heilung von Nervenleiden und Nervenschmerzen durch Handgriffe. Für Ärzte und Laien gemeinverständlich dargestellt. 2. Fischer, Jena 1899
(5) GERLING, R.: Sofortige Schmerzstillung durch Handgriffe zur Erlernung durch Jedermann. 4. W. Möller. Berlin 1899
(6) NAEGELI, O.: Nervenleiden und Nervenschmerzen. Neu herausgegeben von F. Biedermann. 3. Haug, Saulgau, Württemberg 1953
(7) VIERATH, W.: Schmerzstillung durch Handgriffe und Dehnungen. IN: PLATEN, M.: Die neue Heilmethode. Deutsches Verlagshaus Bong und Co. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart 1905, S.425-441
(8) HOMOLA, S.: Bonesetting, Chiropractic, and Cultism. Chapter 13: Chiropractic Specialists. 1963. IM Internet: http://www.chirobase.org/05RB/BCC/13.html

Anschrift des Verfassers:
Matthias Engel, B.A.
Heilpraktiker, Sportwissenschaftler
Asbacher Str. 17c
98574 Schmalkalden



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Naturheilpraxis 10/2009