Begleittherapien

Philosophie als Lebenskunst – ist sie auch Heilkunst?

Von Rebekka Reinhard

„Alles ist Übung!“
(Periandros)

Wer je in eine schwere gesundheitliche Krise geraten ist, von körperlichem oder seelischem Leid betroffen war, weiß, dass in solchen Situationen Fragen über das Warum und Wozu mit besonderer Dringlichkeit auftauchen: „Warum bin ich krank geworden?“, „Warum gerade ich?“ Hinter Fragen wie diesen stehen grundlegende Fragen des Lebens: „Was im Leben ist eigentlich wirklich wichtig?“, „Was für einen Sinn hat mein Leben – welchen Sinn sollte es haben?“

Die Idee, dass philosophische Einsichten heilend auf das „Warum“ individuellen Leids wirken können, ist nicht neu. Sie geht auf die lebenspraktische Philosophie der griechischen Antike zurück, auf Schulen von Weisen wie Zenon, dem Begründer des Stoizismus, oder Epikur. Seit Sokrates, vor allem aber im Hellenismus und in den Anfängen der Kaiserzeit übte man sich in philosophischer Lebenskunst (griechisch technê tou biou, lateinisch ars vitae oder ars bene vivendi), um unabhängig von äußeren Umständen, Sorgen und Ängsten, eine dauerhafte innere Festigkeit, Gelassenheit und Heiterkeit zu gewinnen. Pierre Hadot, der erste moderne Philosoph, der die Bedeutung dieser altehrwürdigen Kunst hervorhob, schrieb:
„Ich habe erkannt, dass die Philosophie nicht nur eine bestimmte Art ist die Welt zu sehen, sondern eine Art zu leben, und dass alle theoretischen Diskurse nichts sind im Vergleich mit dem konkreten gelebten philosophischen Leben.“

Die Philosophie sollte, wie besonders die Stoiker betonten, als Therapeutikum, als Heilmittel eingesetzt werden. So wie die Medizin den Körper heilt, so sollte es Aufgabe der Philosophie sein, die menschliche Seele zu kurieren (in diesem Sinne kann die Philosophie als Urform moderner Psychotherapien gesehen werden). Und dies nicht durch eine Art ‚Symptombehandlung’, sondern durch eine veränderte Haltung gegenüber dem Leben insgesamt. Ziel war es, durch Askese, d. h. durch kontinuierliches sorgfältiges Üben (griechisch askein = „etwas intensiv bearbeiten“) aus dem Chaos des Leben eine schöne, wohlgeordnete Gestalt zu schaffen. Die philosophischen Lehren durften also nicht abgehoben vom Alltagsleben sein, sondern Lehre und Leben sollten eins werden, damit aus rationalen Einsichten ein persönlicher Habitus werden konnte.

Es ist das Verdienst des deutschen Philosophen Gerd B. Achenbach, mit der Institutionalisierung der Philosophischen Praxis (Philosophischen Beratung) 1981 den Wert der Philosophie als Lebenskunst neu bestimmt zu haben. Die heutige philosophische Beratung versteht sich als Ergänzung oder Alternative zu psychotherapeutischen Verfahren. Sie ist eine ressourcenorientierte, kreative Form des zwischenmenschlichen Austauschs und der Selbstreflexion. Inhalte – d. h. lebbare philosophische Erkenntnisse – haben dabei den Vorrang vor Techniken. Philosophische Vorkenntnisse werden vom Ratsuchenden allerdings nicht verlangt; Voraussetzung ist allein ein gesundes Maß an Neugier. Anders als ein Arzt oder Psychotherapeut versteht sich der philosophische Berater nicht als Spezialist, sondern als „Generaldilettant“ (Achenbach). Er hat den Anspruch, sich den Ratsuchenden nicht mit vorgefertigten Theorien, sondern mit größtmöglicher Unvoreingenommenheit zu nähern. In den Gesprächen sollte es keine Denkroutine, sondern immer neue Gedankenentwicklungen geben, die zum Staunen bringen. Da der philosophische Berater berufsbedingt theorieabhängige hierarchische Unterscheidungen wie die zwischen gesund und krank, normal und unnormal, heil und heillos immer wieder hinterfragt, kann es für ihn auch keine Indikationen geben, allenfalls typische Themen. Meiner Erfahrung nach sind dies existenzielle Themen wie Zeit und Endlichkeit, Tod, Liebe und Freundschaft, Gut und Böse, Ungewissheit und Schicksal.

Ich biete die Philosophische Beratung seit mehreren Jahren auch im klinischen Bereich an. Dabei habe ich es mit psychiatrisch Kranken sowie mit körperlich Kranken, hauptsächlich Krebspatienten zu tun. Meist ist es nicht die Lektüre großer Denker wie Seneca, Marc Aurel, Montaigne, Nietzsche oder Kierkegaard, die diese Patienten allererst zu philosophisch Interessierten macht, sondern ihre Krankheit selbst. Die Frage, ob das Leben angesichts des erfahrenen Leids nun ganz oder teilweise sinnlos sei bzw. gerade dadurch in neuer Weise seine Sinnhaftigkeit zeige, beeinflusst alle anderen Fragen, Gedanken und Gefühle.

Wenn ich einen stationären Patienten zum ersten Mal sehe, weiß ich (fast) nichts über ihn. Für unser Gespräch ist mir seine spontane Erzählung der Dinge wichtiger als die Diagnose, Vordiagnosen und sonstigen Aufzeichnungen in seiner Krankenakte. Dabei achte ich sehr auf seine Wortwahl: Wie viel von seinem Wesen, seiner Alltagspraxis kommt in seiner Sprache zum Vorschein? Versteckt er sich hinter anonymen Redewendungen oder Floskeln wie „da kann man nichts machen“ oder „man wird sehen“, ist seine Ausdrucksweise mehr technisch und zweckbezogen (z. B. aufgrund einseitiger Identifikation mit dem Beruf) oder mehr kreativ (neigt er z. B. zu Metaphern oder zu Wortneuschöpfungen, um seinen Zustand auf den Punkt zu bringen)? Die Sprache des jeweiligen Patienten liefert mir nicht nur wichtige Hinweise nicht nur in Bezug auf seine Art zu denken. Ludwig Wittgenstein schrieb:
„Eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.“

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Literatur
Reinhard, Rebekka. Die Sinn-Diät: Warum wir schon alles haben, was wir brauchen – Philosophische Rezepte für ein erfülltes Leben. Ludwig, 2009.

Webadressen
Philosophische Beratung: www.praxis-reinhard.de
Philosophische Beratung im Rahmen integrativer Onkologie: www.klinik-silima.de

Anschrift des Verfassers:
Dr. phil. Rebekka Reinhard
Praxis für philosophische Beratung
Westernmühlstr. 13
80469 München



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Naturheilpraxis 08/2009