Psychotherapien

Das vergessene Trauma

von Hellmuth Schuckall

„Seit Opas Tod, vor einem knappen Jahr ist eine schlimme Veränderung mit meiner Großmutter passiert: Manchmal steht sie- wie soll ich sagen- regelrecht neben sich. Dann redet sie in ihrem seltsamen Dialekt, den kleiner von uns so richtig versteht, vor allen Dingen, wenn dort auch russisch oder polnisch mit eingemengt ist. Am schlimmsten ist aber, dass sie wie vor Schreck erstarrt erscheint, leise, mitunter auch heftig vor sich hinweinend, manchmal von regelrechten Zitteranfällen und so einem tiefen, leidendem Stöhnen verstärkt. Dabei sieht sie einem mit großen, schreckgeweiteten und völlig verständnislosen Augen an, erkennt einen dabei aber oft gar nicht. Man meint direkt, sie träumt mit offenen Augen, was ganz schlimmes. Hoffentlich ist das nicht schon Alzheimer in einem frühen Stadium, denn zwischendurch ist sie ja wieder ganz normal und redet wie immer. Andererseits weigert sie sich strikt über diese Zustände mit uns Enkeln reden und Mama ist ja gerade auf Kur.“

Solche und ähnliche Berichte von beunruhigten Kindern oder Enkeln hörten Behandler, die mit ganzen Familien, und dabei vor allen Dingen mit älteren Menschen befasst sind, immer wieder einmal, in den letzten Jahren allerdings immer öfters. In einigen Fällen handelt es sich dabei tatsächlich um den Ausbruch einer Demenzerkrankung bzw. lösen solche Schilderungen ein entsprechendes Diagnoseprocedere aus. Bei vielen anderen Menschen, über die in dieser oder vergleichbarer Weise berichtet wird, können zwar- mehr oder minder häufig- altersentsprechende mnestische Einschränkungen festgestellt werden, um Alzheimer oder sonstiger Demenzerkrankungen handelt es sich dabei keineswegs. Gemeinsam ist diesen Menschen allerdings, dass sie ein gewisses Alter erreicht haben, dass sie weiter einer Generation angehören, die Krieg und Vertreibung als Kinder, z.T als sehr kleine Kinder erleben mussten. Ihre Eltern, die eigentliche Kriegsgeneration ist in vielen Fällen schon verstorben. Diese „Jüngeren“, die auf langen Märschen, auf Viehwägen, Güterzügen, Schubkarren oder dem Rücken von Eltern aus dem Osten, aus Lagern und ähnlichem, aus zerbombten Städten, verwüstetem Land hatten fliehen müssen, um hier, im Westen erwachsen zu werden, Beruf, Partnerschaft und ihr Glück zu finden, sind schon seit einigen Jahren herausgetreten aus dem aktiven Leben. Sie bevölkern mittlerweile Altenheime, bewohnen Einliegerwohnungen oder leben, nachdem der Partner verstorben ist, alleine, von Nachbarschaftshilfen, Zivis oder der Charitas betreut. Was in früheren Jahren und Jahrzehnten von aktiver Lebensbewältigung, von Familie, Kindern Arbeit, Karriere, Hausbau etc gebunden, verborgen, gebannt war, findet - „im Zustand der zunehmenden Einschränkung und Bewegungslosigkeit seinen Weg in die reale Wirklichkeit der Gegenwart“ (Zitat eines Betroffenen).

Das heißt, all jene z.T. schrecklichen, traumatischen Erlebnisse und Verwicklungen, denen sich die damals kleinen Kinder während der Wirren und des Grauens bei der Flucht ausgesetzt erlebten, und die sich tief in die neuronalen Bahnen und Netzwerke von Amygdala, Hypocampus und praefrontalem Kortex eingebrannt hatten, verlieren zunehmend ihre - bislang funktionierenden - Hemmbarieren. Während bisher und über lange Jahrzehnte ein aktives Vergessenwollen und auch Verdrängen durch die Bewältigungsanstrengungen eines engagierten Lebensweges relativ gut möglich geworden waren, durchbrechen altersbedingte Ortsveränderungen, wie beispielsweise der Umzug in ein Altenheim, der Verlust eines Partners, von nahen Freunden oder Verwandten, in Verbindung und verstärkt mit und von entsprechender persönlicher, altersabbaubedingter Mobiltätsbeschränkung diese Mauer des Vergessens. Manchmal schleichend, mitunter jedoch schlagartig, treten dann das Trauma und seine inneren Bilder wieder zutage. Oft ausgelöst durch eine scheinbare Beiläufigkeit, was dies Beispiel aus der Praxis schildert: Da wird im Nachbarsgarten gegrillt und Rauchschwaden tragen eine Wolke angebruzeltem Steakfleischs mit sich. Die bisher ruhig auf ihrem Gartenstuhl sitzende 73-jährige Sabine S. springt – scheinbar völlig unmotiviert - von ihrem Sitz auf, den Tisch umwerfend, um schluchzend und die Hände vors Gesicht schlagend, wie panisch und zum Schrecken der anderen im Heimgarten hin und herzulaufen. Schließlich gelingt es einer herbeigeeilten Helferin die völlig aufgelöste Frau ein Stück zu beruhigen, indem sie sie in den Arm nimmt und eng umfassend festhält. Wieder zur Ruhe gekommen und zurück auf ihrem hübschen Zimmer im Seniorenheim verfällt Frau S. rasch in einen an tiefe Depression erinnernden, fast apathischen Zustand, starrt, sich kaum mehr bewegend gegen eine Wand, Worte und Namen vor sich hermurmelnd. Eine rasch zugezogene Psychiaterin diagnostiziert schließlich - entgegen der allgemeinen Erwartung keine TIA, Schlaganfall oder einen Demenzschub, sondern einen „posttraumatischen Erregungszustand“.

Wie dann eine nachfolgende und konsequente Therapie erbrachte, hatte der Geruch des angebrannten Grillfleisches eine ganze Kette von Erinnerungsbildern aus der panischen Flucht von Mutter und Opa des Schulkindes Sabine S. durch die brennende Provinzstadt aktiviert, wo nach einem schweren Angriff mit Phosporbomben - im letzten Kriegsjahr - Menschen als brennende, vor unerträglichem Schmerz und Schock schreiende Fackeln aus den Häusern stürmten; vorbei an Sabine S, die, von der zerrenden Hand der Mutter weiter gedrängt, ihre eine freie Hände kaum vor ihre entsetzten Augen halten konnte. Die gellenden Schreie in Verbindung mit dem Brandgeruch seien es gewesen, die sie, später im Laufe der Kinder- und Jugendzeit bis weit in die Pubertät - in den stets gleichen Alpträumen - immer wieder angstvoll schreiend haben aufwachen lassern. Oft habe sie der Mutter davon berichten wollen, die habe aber von „solchen ollen Geschichten“ nicht hören wollen und als „Albträume, wie wir sie alle mal haben“ abgetan. Die ganze Ehe über wie auch die Jahre der Geschäftsgründung und des Ausbaus des kleinen Handwerksbetriebs, dessen Verwaltung sie sehr aktiv und engagiert mit geführt hatte, waren diese Erinnerungen, (die Albträume waren Ende der Pubertät verschwunden) zwar „irgendwie da, aber weit weg wie aus einem Geschichtenbuch“.

Als dann im vorletzten Jahr der Ehemann, nach 38-jähriger Verbindung, überraschend und schnell an Krebs erkrankte und starb, sie das große Haus aufgab, um in das relativ teuere Seniorenheim mit den schönen Zimmern und der guten Versorgung zu ziehen,- die Kinder lebten beide im Ausland - , begannen unvermittelt „solche komischen Zustände“. So berichtete Frau S. ihrer Hausärztin, dass sie nachts immer um eine bestimmte Zeit aufwache, dann so unruhig, ja manchmal panisch sei, dass sie die ganze Nacht nicht mehr schlafen könne. Es befalle sie auch so ein eigenartiges Zittern und sie habe das Gefühl, die Hände vors Gesicht schlagen zu müssen. Die Ärztin meinte, das alles sei eine Art Panikattacke, die mit Tod des Ehemanns und dem Umzug in die neue Umgebung zutun hätten; das würde bald wieder vergehen, weil es sich um ein so genanntes Adaptationssyndrom handele, was man in solchen Fällen kenne. Sie verordnete ein Lexotanil und Schlaftabletten zur Nacht. Zwar ging es Sabine S. eine gewisse Zeit tatsächlich etwas besser, allmählich jedoch stellte sich die beunruhigende Symptomatik wieder ein. Die Ärztin vermutete einen beginnende Demenzerkrankung oder ähnliches und riet schließlich zum Besuch eines Gerontopsychiaters, was dann unterblieb, weil die geschilderte aktuelle dramatische Zuspitzung dem Ganzen vorgriff.
Anstelle einer „vermutlichen Demenz“ wurde das Symptom eines PTBS= postraumatischen Belastungssysndrom diagnostiziert. Durch persönliche Kontakte konnte Sabine S., die nahe einer Süddeutschen Großstadt lebt, schnell einen Therapieplatz bekommen, wo eine systematische Traumabehandlung - mehr als 6o Jahre nach dem traumatischen Erlebnissen - aufgenommen wurde.

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EMDR*
EMDR=EYE MOVEMENT DESENSITIZATION AND REPROCESSING
wird weltweit als relativ einfach zu erlernende und anzuwenden Methode bei der Behandlung von Psychotraumen eingesetzt. Fast alle Traumaambulanzen an westlichen psychosomatischen Einrichtungen nutzen u.A. diese Technik. Dabei handelt es sich um sogenannte geführte Augenbewegungen, während gleichzeitig das traumatische Erlebnis –mehrdimensional- mittels bewusster aktivierter Empfindungen, innerer Sätze und Kognitionen, Körperwahrnehmungen etc präsent gehalten wird. Dabei macht der Patient die Erfahrung, dass der „traumatische Komplex“ mit zunehmenden Durchgängen dieser Augenbewegungen schwächer und emotionsärmer wird, bis er sich schließlich nur noch in eine Erinnerung wandelt, bei der die ursprüngliche psychisch destruierende Potenz weitgehend verblasst bzw. aufgelöst ist. Wie der neurophysiologische Mechanismus dieser geführten Augenbewegungen, welche die REM Schlaf- Sakkaden nachbilden, letztlich wirkt, ist Gegenstand vielfältiger neurobiologischer Forschung. Fakt ist, dass offenbar die gleichzeitige Aktivierung beider Hirnhälften Austausch- und Informationsverabeitungsprozesse katalysiert, was bis dato geankerte Netzwerkbahnen zu mobilisieren und zu verändern scheint.
EMDR geht auf die grundlegenden Arbeiten von Francine Shapiro zurück, die in den 80-iger Jahren am Mental Research Institute in Palo Alto (CA- USA) als Psychologin arbeitete und forschte und die, nach einer Zufallsentdeckung die Behandlung der eführten Augenbewegungen zum heute noch gängigen EMDR entwickelte.
Bei uns hatte Dr. Arne Hofmann wesentlichen Anteil an der systematischen Weiterentwicklung und Institutionalisierung dieser Traumatherapie genommen. Er ist Gründer und Leiter des EMDR-Instituts Deutschland.
In Deutschland werden die zentifizierten EMDR-Therapeuten in der Regel in einer Therapeutenliste der deutschen EMDRIA (Fachgesellschaft EMDRIA-Deutschland e.V, www.emdria.de) geführt. Mittlerweile sind dies weit über tausend zertifizierte Therapeuten (zuzüglich einige Tausend regelrecht ausgebildete und tätige Behandler ohne Zertifizierung). Österreich und die Schweiz wie auch viele andere europäische Länder führen ihre nach Regelwerk ausgebildeten EMDR-Spezialisten ebenfalls in entsprechenden Landesvereinigungen.
International sind diese Traumabehandler in EMDR-EUROPEAN ASSOCIATION (EMDREA), www.EMDR-Europe.net und EMDR INTERNATIONAL ORGANISATION (EMDRIA) www.EMDRIA.org zusammengefasst.

Literaturempfehlung zu EMDR:
A. Hofmann: EMDR in der Therapie mit Posttraumatischer Belastungssyndrome, Thieme
F. Shapiro:EMDR als integrativer psychotherapeutischer Ansatz, Jungfermann-Verlag

Adressen von Traumatherapie Fachgesellschaften:
Für den Oberbayer. Raum:
Traumahilfezentrum München, www.thzm.de
bundesweit:
Deutschsprach. Gesellschaft für Psychotraumatologie, www.degpt.de
Deutsches Institut für Psychotraumatologie, www.psychotraumatologie.de
Psychotraumatology Institute Europe, www.psychotraumatology-institute-europe.com

Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Hellmuth Schuckall
Prakt. Arzt, FA f. Psychosomat. Medizin u. Psychotherapie, Psychotherapie, Psychoanalyse, Naturheilverfahren
Nördl. Auffahrtsallee 62
80638 München
www.doc-schuckall.de

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