Heilweisen verschiedener Länder

Therapie im Wandel der Entwicklung

von Klaus Binding

Auf dem Gebiet der alternativen Heilmethoden ist in den letzten Jahrzehnten eine Trendwende zu beobachten. Immer häufiger werden die klassischen Therapieverfahren verändert, mit anderen, meist älteren Methoden vermischt, oder erhalten nach der Idee des Begründers neue Namen und Zusatzbezeichnungen. Vielen dieser Bestrebungen liegt eine tiefere Sehnsucht nach archaischer Religiosität zugrunde. Die Abwendung von den traditionellen Kirchen, die am spirituellen Bedürfnis der heutigen Menschen vorbeimissionieren, führte zur Suche nach persönlichen religiösen Erfahrungen. In den meisten neuen Bewegungen und Therapieansätzen, wie auch dem Schamanismus, ist eine Rückwendung zu alten naturreligiösen Vorstellungen auffällig. Es ist wichtig zu differenzieren, ob es sich dabei um Wochenendkurse für zivilisationsmüde, frustrierte Teilnehmer handelt, deren Betonung auf Selbsterfahrung durch Trance und Ekstase liegt, oder ob es um ernstzunehmende Therapieansätze geht.

Echtes Schamanentum (als Ursprung des heutigen Neo-Schamanismus des New Age) ist in den Kulturen aller Kontinente verbreitet. Schamane kommt von tungisisch (Ostsibirien) „Shaman“ und mandschurisch „Samarambi“, was soviel wie anheizen, verbrennen, sich empören, um sich schlagen, bedeutet. Medizinmänner der Indianer und Heiler anderer Urvölker entsprechen dieser Definition. Steinzeitliche Felszeichnungen in Südfrankreich, die Menschen in Tiergestalt zeigen, wurden auch als Darstellungen von Schamanen ausgelegt. Das Amt des Schamanen ist die Vermittlung zwischen den Menschen und der außermenschlichen Welt. Der (echte) Schamane fungiert als seelischer Führer für die Gesamtheit seines Volkes oder Sippe. In besonderen Fällen wendet er sich auch einzeln erkrankten Menschen zu, die aber nicht als Individuen, sondern als Teil ihres sozialen Zusammenhangs therapiert werden. Das soziale Umfeld wird konkret in die Heilbemühungen einbezogen.

Niemand kann sich entschließen Schamane zu werden. Man muss von Geburt dazu bestimmt sein und vom alten Schamanen und von der Gemeinschaft (Volk, Sippe, Stamm) dazu berufen werden. Diese Initiation ist ein langwieriger Prozess, der bei manchen Völkern Jahrzehnte dauert. Oft berief man Menschen, die bei uns als psychisch krank gelten würden. Der zukünftige Schamane wehrte sich oft gegen seine Auserwählung und stand erst nach langen inneren Kämpfen, die von Verwirrtheit, Krankheit und Krisen begleitet waren, zu seiner Berufung durch die Götter. Das schamanische Konzept (auch Heilkonzept) ist gesellschaftlich begründet und lässt dem Schamanen keine persönliche Freiheit im Handeln. Er muss deshalb die überlieferten Riten erlernen. Die schamanischen Ausdrucksmöglichkeiten in Tanz, Musik, mimischer Gestaltung u.ä. können so, da ritualisiert, von allen verstanden werden. Der Schamane übersetzt Botschaften aus der unsichtbaren Seelenwelt in erlebbare Gleichnisse der irdischen Alltagswelt. Es ist ein magischer Akt, der das absolute Vertrauen in den Schamanen und in seine (auch moralischen) Fähigkeiten voraussetzt.

Das Volk oder auch der Einzelne bleibt unmündig, ist vom Vermittler abhängig, ist unfrei.

Alle Kulturerscheinungen, zu denen auch die Medizin gehört, sind Spiegelbild des jeweiligen Entwicklungsstandes der Menschheit. Schamanische Rituale stammen aus einer Epoche der Menschheitsentwicklung, in der der Mensch noch stark im Natur- und Gruppenleben verankert war. Der Mensch steckte in den Kinderschuhen seiner Entwicklung und war von den Naturkräften und – geistern abhängig; und der Einzelne hatte keinen Zugang zu der höheren Welt der Götter.

Die entwicklungsmäßige Ablösung des schamanischen Prinzips wurde im griechischen Denken vorbereitet. Hippokrates holte die Heilkunst aus den priesterlich, schamanischen Tempeln in den Kreis des menschlichen Denkens. Der „neue“ Therapeut muss nicht mehr als initiierter Schamane die ahnungslose Schafherde führen. Er vermittelt Heilung aus Erkenntnis, die durch Beobachtung, Erfahrung und individuelles Denken begründet ist. Er muss kein Magier mehr sein – und er wendet sich dem Einzelmenschen zu.

Der Mensch hat sich aus den gruppenhaften Wir-Verhältnissen zum freien Ich-Wesen entwickelt. Noch nie war der Mensch so individuell in seiner Abgrenzung vom Mitmenschen, in seinem „Ich will aber...-Bestreben“, wie in der heutigen Zeit. Das Erleben der eigenen Persönlichkeit in sich selbst, das auf der Kehrseite natürlich auch den extremen Egoismus unserer Zeit im Gefolge hat, ist geradezu charakteristisch für das momentane Weltbild. So wie die egozentrische Vereinzelung des Menschen als Zeitanalogie sich im Pathologischen als Krebserkrankung (als Eigenwillen der Einzelzelle) ausdrückt, muss auch das „Heilmittel“ analog beschaffen sein. Es muss individuell gestaltet werden, und darf nicht von eingeweihten Schamanen, die die Individualität im Gruppenhaften auflösen, abhängen. Die sich weiterentwickelnde Menschheit braucht keine Schamanen mehr, die als Vermittler die Naturgötter der Seelenwelt befragen, sondern Lehrer die Erkenntnis und Hilfestellung zur Selbsterfahrung lehren; Lehrer, die Anleitung geben das gleiche Wissen zu erlangen; das sie selbst haben. Der Schüler wird bestenfalls selbst zum Lehrer. Der Mensch als Individuum ist berufen selbst zu fragen. Eine Teilnehmerin eines Wochenend-Seminars an der Herbert-Fritsche-Schule mit dem Thema Homöopathie und Schamanismus, drückte in ihrem Diskussionsbeitrag dies so aus: „Mit dem Tod Christi am Kreuz ist der Vorhang vorm Allerheiligsten im Tempel zerrissen. Das ist symbolisch und bedeutet, dass jeder in Zukunft Zutritt zum Allerheiligsten hat, nicht nur der Hohepriester. Jeder ist zum Priestertum berufen.“ Der Mensch agiert selbst (aus dem Selbst), als Kranker wie auch als Therapeut. Der Naturheilkundler verordnet pflanzliche Heilmittel aus Erfahrung und Erkenntnis. Er vermittelt höhere Pflanzenwahrheit, die von ihm selbst als Person unabhängig ist. Der Schamane dagegen macht sich selbst zum Heilmittel und hält den Patienten unmündig. Gerade individuelle Heilmethoden setzen gerne auf die Eigenverantwortung für die Genesung. Neben der Verordnung von Heilpflanzen, Homöopathika, Kneipp`schen Anwendungen u.s.w. spielen immer auch gesundheitshygienische Aspekte einer Rolle. Ernährung, Schlaf, Bewegung und meditative Übungen verlangen Eigeninitiative und sollen den Patienten zum Nach- und Mitdenken anregen. Der mitdenkende, eigenverantwortliche Patient entspricht dem zeitgemäßen, alternativen Therapeut-Patienten-Verhältnis. So ist der heutige Therapeut ein Dienender, oder modern ausgedrückt: ein Dienstleister. Dieses „Dienen“ kann durchaus als priesterlich verstanden werden (unter der Voraussetzung qualifizierter, fachlicher Kenntnisse). Priesterlich wird es durch das Ethos des Heilberufs (Halunken werden Scharlatane, H. Fritsche) und durch die liebevolle Hingabe an Aufgabe und Menschen.

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Der „moderne“ Behandler wird keinen schamanischen Kult um seine Person machen, sondern eher bescheiden auf fachliche Qualifikation und Mitarbeit des Patienten bauen. Der Schulmedizin als Bindeglied zwischen naturreligiösen Heilverfahren und neuen naturheilkundlichen Therapien (alles ab Hippokrates ist eigentlich „neu“) fehlt leider das Weisheitsvolle, Priesterliche, das aus Naturreligiösem stammt, und auch im neuzeitlichen Therapieren einen festen Platz braucht. Der Schulmedizin fehlt aufgrund ihrer Spezialisierung der Weisheitsaspekt für die menschliche Ganzheit. Der Schamanismus kann lehren die göttliche Schöpferkraft in allem Natürlichen zu entdecken und zu verehren. Eine demütige, dankende Einstellung den Naturkräften gegenüber öffnet dem Geist den Weg zu ihren Geheimnissen. Eine Haltung, die Albert Schweitzer großartig als „Ehrfurcht vor dem Leben“ auf den Punkt gebracht hat.

Anschrift des Verfassers:
Klaus Binding
Brenneckenbrück 5a
38518 Gifhorn
klaus_binding@freenet.de

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Naturheilpraxis 10/2008