BETRACHTUNG

Älter werden

Von Josef Karl

I.

Allein in München gibt es heute über 80 Hundertjährige. 1993 noch waren es erst 30, im Jahr 2000 schon 57. Diese Tendenz ist unübersehbar. Darf man den Forschern, Statistikern und Versicherungsmathematikern glauben, werden (noch?) die Zahlen steigen? Ohne Zweifel ein Fortschritt, wenn wir daran denken, dass noch in meiner Jugend es allgemein so war, dass Männer, die mit 65 in die Rente oder Pension kamen (falls sie das Datum überhaupt erlebten!), statistisch noch zwei Jahre Lebenszeit hatten. Entbehrungsreiche bis ärmliche Jugend (zwei Weltkriege), dann mehr oder weniger malochen, endlich zu arbeiten aufhören und sterben. Dabei wäre jedem Menschen – wie es gottlob heute bei Vielen der Fall ist – zu wünschen, dass es „ein gutes, ein schönes, ein gesundes Leben nach der Arbeit gibt“.

In den Industrieländern ist dieses Ziel vielleicht erreicht – in weiten Teilen der Welt sind wir noch meilenweit entfernt, auch in rapid sich industrialisierenden Ländern wie beispielsweise China sieht es noch sehr betrüblich aus – der „Aufstieg“ wird, wie immer in der Menschheitsgeschichte, buchstäblich auf dem Rücken der Arbeiter, Frauen wie Männer, ausgetragen.

II.

Wir hören von Senioren-Residenzen(!), wir sehen viele rüstige reisende Alte, die wirklich fit sind. Aber sind das alle? Eine ganz kurze Zeit (Frühjahr 2007) wurde plötzlich in Deutschland die Armut von den Politikerinnen und Politikern entdeckt. Es war (ist) wie eine Groteske: den hohen Herrschaften war kaum aufgefallen, dass es die schon lange gibt. Aber plötzlich kam das in den Medien, von 10 Millionen war die Rede, die an der Armutsgrenze leben, 3 Millionen Kinder, die nur das Nötigste haben und dadurch schon von vorne herein aus der Gesellschaft fallen, weil sie dem Druck und der Ächtung der jugendlichen Nikeschuh- und Lacostepullover-Trägern nicht gewachsen sind. Sie bleiben vor allen Türen.

Und die Alten? Dazu ein Beispiel aus 50 Jahren genauer Beobachtung. Meine Praxis war und ist immer in Altschwabing gewesen. Vor diesem halben Jahrhundert gab es noch ältere Alteingesessene, deren Eltern schon in diesem Viertel lebten. Einfache ältere Menschen, nicht arm, nicht wohlhabend, die in den Mietshäusern rundherum wohnten. Bei Hausbesuchen konnte man viele Altmünchner Namen lesen: Grandlhuber, Eckl, Mühlbauer, Auer, Egner, selten Nobeling, Misgeld, von Freudenfels, Stanovitz.

Nun tun Sie mich vielleicht, werte Leser/innen, in die Schublade „fremdenfeindlich“. Doch es geht um etwas anderes, was alle Leute in den Städten des Westens kennen: Sanierung, Umbau, Umnutzung, verbunden mit erheblicher Verteuerung und ein Hinausekeln der Alteingesessenen durch jene die mehr zahlen können und die Motivation haben, sich oder ihre wohlsituierten studierenden Jugendlichen im „schicken“ München unterzubringen.

Die Alten wurden „ausgesiedelt“, an Stadtränder, Ausfallstraßenhochhäuser. Sie verschwinden. Früher konnten einfache Witwen und Witwer in der „Hopfenperle“ essen, im „Schwabingerbräu“, im „Wienerwald“: simple bayerische Gerichte (Milzwurz mit Kartoffelsalat, 2 Weißwürste mit einer Brezel, Tiroler Gröstl, Leberknödelsuppe – kein Gericht über fünf Deutsche Mark).
Alles das war Nostalgie? Nein, nein – es muss ein Blick geworfen werden auf die Misere und die Unglaublichkeit, dass in unserem angeblich aufgeklärten Zeitalter die soziale Schere dermaßen auseinander fällt. Wer hätte das gedacht, wo doch so viel von sozialer Gerechtigkeit geschwafelt wird wie heute? Sind wir eine Bananenrepublik geworden, die sich dazu noch mokiert, dass es beispielsweise in Russland die unverschämt reiche mafiöse Oberschicht gibt und die Mütterchen, die bei 30 ¡C Grad minus am Roten Platz in Moskau ihre 10 Eier verkaufen? Auch die Jüngeren werden sich über kurz oder lang fragen müssen, wo wir hingehen. Noch leben viele gestylte junge Leute in neuen Cabriolets vom Vermögen der Eltern und vor allem von den Reserven der Großeltern. Wenn diese aber zu Ende gehen? Schwarzmalerei oder Wirklichkeit?

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Anschrift des Verfassers:
Josef Karl
Alpenstr. 25
82377 Penzberg

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Naturheilpraxis 09/2008