Die Frau in der Medizin/Naturheilkunde

Brauchen Frauen eine eigene Medizin?

Von Ernst-Albert Meyer

I: Arzneimittel relevante Unterschiede bei Mann und Frau

Unterschiede bei Mann und Frau, die sich vor allem in der Anatomie, Physiologie und dem Hormonstatus manifestieren, werden bis jetzt in der Medizin – vor allem in der Arzneimitteltherapie – kaum berücksichtigt. Obwohl es hier erste Veränderungen gibt, wurden die meisten der rund 60.000 in Deutschland im Handel befindlichen Arzneimittel vorwiegend an Männern klinisch geprüft. Und das hat Folgen: So treten unerwünschte Arzneimittelwirkungen bei Frauen doppelt so häufig wie bei Männern auf. Eine noch junge Wissenschaft – die Gender Medizin – hat sich dieser Probleme angenommen. In dieser Serie wird über einige wichtige Ergebnisse der Gender Medizin berichtet.

1. Was ist Gender Medizin?

Die Gender Medizin untersucht Krankheiten, ihre Prävention, Diagnose, Therapie und Rehabilitation unter geschlechtsspezifischen Aspekten, wobei auch psychosoziale Gesichtspunkte berücksichtigt werden.

2. Warum klinische Studien meist ohne Frauen durchgeführt wurden?

Ärzte, die klinische Studien durchführen kennen das Problem: Der „Proband Frau“ stellt bei Arzneimittelprüfungen einen Unsicherheitsfaktor dar. So weiß man, dass bei Frauen in klinischen Studien andere Arzneimittel-Effekte als bei Männern auftreten können. Ursachen sind physiologische Unterschiede zwischen Mann und Frau, die z.T. auch pharmakologisch unterschiedliche Effekte bedingen. Der monatliche hormonelle Zyklus der Frau wurde von der Forschung als methodisches Problem eingestuft. Die hormonell bedingten Schwankungen würden die Analyse erschweren und die Forschung verteuern, weil mehr Kontrollgruppen benötigt würden, so hieß es früher. Hinzu kam die Sorge, die Einbeziehung von Frauen im gebärfähigen Alter in klinische Studien könnte die Föten gefährden. Von Haftungsklagen für arzneimittelgeschädigte Kinder ganz abgesehen. Spätestens nach dem Thalidomid-Dilemma 1961 wurden Frauen für mehr als 30 Jahre nach Möglichkeit von klinischen Studien ausgeschlossen. Thalidomid (Contergan) kam 1957 als besonders sicheres Schlafmittel und Beruhigungsmittel auf den Markt. Als 1961 – nach vier Jahren – die Zulassung zurückgenommen werden musste, hatte Contergan die größte Arzneimittelkatastrophe aller Zeiten ausgelöst. Damit war der Mann, jung, weiß und mit einem Körpergewicht von 70 bis 80 kg der ideale Proband für die klinische Forschung. Der Einsatz von Männern in klinischen Studien sei billiger und die Arzneimittelwirkungen sind im männlichen Körper einfacher zu studieren, so war die damals die allgemeine Meinung.

3. Erste Veränderungen in den USA

Die Jahrzehnte lange Benachteiligung der Frau in der medizinischen Forschung zeigt Folgen: Viele Medikamente wurden für Männer entwickelt und an Männern erprobt. Doch in der praktischen Medizin werden diese „Männer-Arzneimittel“ auch Frauen verordnet mit dem Ergebnis, das Arzneimittel-Nebenwirkungen heute bei Frauen doppelt so häufig wie bei Männern auftreten, d.h. Frauen müssen oft unnötig leiden. Oder mit anderen Worten: Für Männer entwickelte Medikamente können für Frauen gefährlich sein! Obwohl wiederholt vor allem Forscherinnen auf diesen unhaltbaren Zustand hinwiesen, änderte sich lange Zeit nichts. So wurde beispielsweise die erste Studie über die Rolle von Östrogenen bei der Prävention von Herzerkrankungen erstaunlicherweise ausschließlich an Männern durchgeführt. Die amerikanische Arzneimittelzulassungsbehörde (FDA) ließ bis zum Frühjahr 1988 klinische Studien mit neuen Arzneimitteln routinemäßig nur an Männern durchführen. Ein erstes Umdenken setzte 1992 ein: Eine vom amerikanischen Bundesrechnungshof in Auftrag gegebene Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass nur die Hälfte der geprüften Arzneimittel auch auf eine geschlechtsspezifische Wirkung untersucht worden sei. Und dies trotz der Tatsache, dass 80 Prozent aller Arzneimittel in den USA von Frauen verbraucht werden. Doch grundlegend änderte sich die Situation erst, als Anfang der neunziger Jahre AIDS-Medikamente getestet werden sollten. Auf massiven Druck von amerikanischen Frauenrechtlerinnen wurden auch aidskranke Frauen als Probanden in klinische Studien aufgenommen. Doch inzwischen hat ein Umdenken eingesetzt: Seit 1998 fordert die FDA (amerikanische Arzneimittelzulassungsbehörde) für neu zuzulassende Arzneimittel die Angabe geschlechtsspezifischer Daten. Viele der in den USA realisierten Maßnahmen sind auch für andere Länder beispielgebend: In Deutschland hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Mai 2001 einen ersten „Bericht zur gesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschland“ herausgegeben. Die dort publizierten Untersuchungsergebnisse zeigen, wie wichtig eine geschlechtsspezifische Unterscheidung im Bereich Gesundheit ist und wie viel Handlungsbedarf bei dieser Thematik auch in Deutschland besteht. Deshalb wurde vom Ministerium die „Bundeskoordination Frauengesundheit (BFK)“ gegründet. Sie soll unter dem Leitthema „Gender Mainstreaming in der Gesundheitsversorgung“ die Ergebnisse des Frauengesundheitsberichtes umsetzen.

4. Physiologische Unterschiede bei Mann und Frau

Die Resorption, Verteilung, Wirkung, Biotransformation (Metabolisierung) und Elimination von Arzneimitteln hängt von vielen Parametern ab. Ein wichtige Rolle spielen hierbei das Körpergewicht, der Fett- und Wasseranteil des Organismus, das Plasmavolumen und die Organdurchblutung, die Magen- und Darm-Passage, der Stoffwechsel, die Metabolisierungs-Leistung der Leber und etliche andere Organfunktionen. Weiterhin sind die Bindung an Plasma-Proteine und die Wechselwirkungen mit endogenen oder exogen zugeführten Hormonen zu nennen. Und hier gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede, die die Pharmakokinetik und Pharmakodynamik zahlreicher Arzneistoffe unterschiedlich beeinflussen können.

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Anschrift des Verfassers:
Ernst-Albert Meyer
Fachapotheker für Offizin-Pharmazie und Medizinjournalist
Hesselbarthstr. 4
59555 Lippstadt

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