Arbeitskreis für Augendiagnose und Phänomenologie Josef Angerer e.V

Ist Physiognomik objektiv?

von Gottfried Pflanzer

Die Physiognomik macht Charakteraussagen. Was versteht man unter Charakter? Dem Wortlaut nach bedeutet er „Eingeprägtes Zeichen“. Durch solch eingeprägte Zeichen tritt die Eigenart oder Eigentümlichkeit von etwas hervor. Dieses Etwas kann ein einfaches Ding sein, ein komplexes Gebilde, eine Landschaft, ein Kunstwerk oder auch ein Wesen, ein Mensch. Wo kommen sie her und durch was werden sie gebildet, diese eingeprägten Zeichen? Die Psychologie sagt, dass sie beim Menschen sowohl aus den ererbten Anlagen als auch aus den erworbenen Einstellungen und Strebungen gebildet werden. Sie bestimmen die individuelle Eigenart eines Menschen und treten nach außen als relative Stetigkeit von Verhaltensmustern in Erscheinung.
In der Physiognomik werden diese eingeprägten Zeichen in direkte Verbindung gebracht mit der äußeren Erscheinung, speziell mit dem Gesichtsausdruck, denn es gilt der Grundsatz der Einheit von Innen und Außen: das inwendig Eingedrückte sucht und findet in der äußeren Form seinen Ausdruck. Physiognomik versucht also über die Form und Gestaltung des Gesichtsausdrucks etwas von der inneren Struktur des Menschen zu erfassen.

Nun gibt es aber leider ein Problem, das so alt ist wie die Physiognomik selbst: es ist die immer wieder erneut zu machende Feststellung, dass leider des öfteren ein Mensch ganz anders ist, als er nach den Regeln und Erfahrungen der Physiognomik sein müsste. Eine ziemlich niederschmetternde Feststellung.

So zum Beispiel der griechische Philosoph Sokrates, der bekanntlich ein regelrechter Heros der Tugend war. Aber seine Physiognomie steht in eklatantem Widerspruch zu seinem Leben. Einer seiner Schüler hat ihn einmal darauf angesprochen. Sinngemäß sagte er: „Du bist ein lebendes Beispiel deiner Lehre. Du lehrst nicht nur die erhabensten Gedanken, sondern du lebst auch die Tugenden, die du lehrst. Wie ist es möglich, dass du aussiehst wie ein Satyr, dass du die Nase hast eines Raufbolds und die Lippen eines Säufers?“ Sokrates antwortete darauf: „Was die Gedanken betrifft: nun, ich denke nicht mit der Nase. Und was das Übrige betrifft: du siehst nicht, wie mein Daimonion mich inzwischen gestaltet hat.“ Daimonion, das ist das Gewissen, die innere Stimme. An die glaubte Sokrates und sie war ihm oberste Instanz und Bürgschaft für das Göttliche und gab ihm kund, was er zu tun habe. Aber die Wirksamkeit dieses Daimonion in Sokrates war dem Schüler nicht sichtbar.

Und wir? Ich fürchte, wir gleichen diesem Schüler an Blindheit. Doch damit tut sich ein tiefer Riss auf in der Physiognomik, weil das Innere sich eben doch nicht ganz zeigt, weil es sich nicht im sichtbaren Erscheinungsbild erschöpft oder zumindest weil die innere Entwicklung zeitlich sehr versetzt in die äußere Erscheinung kommt. An diese Grenze stoßen wir in der praktisch angewandten Physiognomik immer wieder.

Und an diesem Punkt setzen auch die Kritiker der Physiognomik immer wieder an. Man spricht von der „grundsätzlichen Unbeschreibbarkeit des Menschengesichts“ und belächelt die Physiognomik als „aufklärerisches Kuriosum“ (Peter v. Matt) und zitiert dann besonders gerne Georg Christoph Lichtenberg, einen der scharfsinnigsten und scharfzüngigsten Aphoristiker der deutschen Sprache: „Physiognomik ist nächst der Prophetie die trüglichste aller Menschenkünste, die je ein ausschweifender Kopf ausgeheckt hat.“

So überspitzt diese Kritik auch ist, man sollte sie nicht einfach nur abtun als launische Ignoranz und Überheblichkeit von Skeptikern, denen die Offenheit und natürliche Empfänglichkeit für das intuitive Ausdrucksverstehen fehlt. Nein, die Kritik an der Physiognomik hat einen tieferen Grund. Sie entspringt der Sorge, dass damit dem Menschen ein falsches Wertungsmuster übergestülpt wird, dass der Mensch vom Ansatz her schon falsch vermessen wird, dass man ihm damit nicht gerecht wird, ja, dass die Idee „Mensch“ damit vielleicht verfehlt wird.

In der Tat, die Geschichte der Physiognomik ist voll von Irrtümern und Peinlichkeiten. Aber dennoch sollte man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Nicht die Physiognomik als Erfahrungswissenschaft ist abzulehnen – das wäre die falsche Konsequenz – sondern der Anspruch an die Physiognomik muss ein anderer werden.

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Für alle, die nach diesem spannenden und vielschichtigen Artikel über die Physiognomik Interesse bekommen an diesem Thema:
Der Referent gestaltet in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis für Augendiagnose Josef Angerer e.V. ein
Einführungsseminar zu Grundlagen – Systematik und praktischer Anwendung der Physiognomischen Psychologie

Termin ist der 12.4.2008 von 9.30 – 17.00 Uhr. Nähere Informationen unter www.ak-augendiagnose.de oder unter 089 / 15 45 50.

Anschrift des Verfassers:
Gottfried Pflanzer
Schloßstr. 9a
85737 Ismaning

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