Homöopathische Behandlung psychiatrischer Krankheiten

von Jochen Schleimer

§215
Fast alle sogenannten Geistes- und Gemütskrankheiten sind nichts anderes als körperliche Krankheiten, bei denen sich das jeder Geistes- und Gemütsverstimmung eigentümliche Symptom – unter Verminderung der Körpersymptome – schneller oder langsamer erhöht; endlich setzt es sich bis zur auffallendsten Einseitigkeit, fast wie ein Lokalübel, in den unsichtbar feinen Geistes- oder Gemütsorganen fest.

Mit der Behandlung psychiatrischer Krankheiten hat sich die Homöopathie immer schwer getan, obwohl sie von Anfang an auf der richtigen Spur war. Schon vor Hahnemann gab es Versuche, psychiatrische Störungen mit Pflanzenauszügen zu behandeln. Storck in Wien berichtet von einer erfolgreichen Behandlung einer “Raserei” (vermutlich handelte es sich um eine akute Manie) mittels Stramonium. Der Stechapfel wurde allerdings unverdünnt angewandt, was zu erheblich Nebenwirkungen geführt haben dürfte (wovon allerdings nichts berichtet wird).

In wissenschaftlicher Hinsicht war das 18. Jahrhundert eine aufregende Zeit: einerseits herrschte finsterster Aberglaube, der jedem Scharlatan ein reiches Betätigungsfeld einräumte, andererseits gab es kaum ein Zeitalter, in dem es eine solche Häufung an Genies gab, besonders in musikalischer und naturwissenschaftlicher Hinsicht – unserem Zeitalter (mit Ausnahme der Genies) nicht unähnlich.

Hahnemann lebte über die Hälfte seines Lebens im 18. Jahrhundert, während seine Lehre ihre Ausformung in der Romantik erhielt; beim Lesen des Organons und späterer Werke ist dieser Spagat zu spüren.

Hahnemann war einer der ersten, der Geisteskrankheiten als Stoffwechselstörungen erkannte, und das zu einer Zeit, als psychiatrische Krankheiten als Besessenheit von Dämonen oder vom Teufel selbst angesehen wurde.

Hahnemann ist damit der Begründer einer biologischen Psychiatrie!
Die Entstehung dieser Krankheiten deutete er mit einer gestörten Lebenskraft. Heute werden psychiatrische Krankheiten im weitesten Sinn als Ungleichgewicht der Neurotransmitter Serotonin, GABA, DOPA und Noradrenalin interpretiert. Warum es zu einem solchen Ungleichgewicht kommt, entzieht sich immer noch unserer Kenntnis wie Hahnemanns gestörte Lebenskraft.
Ernüchternd ist, dass – gleichgültig, ob es sich um die Wut über einen Parkzettel oder um Liebesleid handelt, immer der gleiche stereotype Mechanismus vorherrscht, nämlich eine relative Verarmung von Serotonin im synaptischen Spalt.

So vielfältig die Äußerungen der Seele sind, so stereotyp verlaufen seelische Erkrankungen. Diesen Umstand bekam Hahnemann früh zu spüren. Die Behandlung seines ersten psychiatrischen Patienten Klockenbrinck ist wohl eher der Entpflichtung und menschlichen Zuwendung – vielleicht auch einer Spontanremission – zu zurechnen als der homöopathischen Heilkunst.

Der Anlass zum Scheitern liegt in der homöopathischen Doktrin selbst: Die Suche nach charakteristischen und sonderlichen Symptomen nach dem § 153 des Organon führte immer wieder zu Fehlinterpretationen der Krankheit. Der Inhalt eines Wahns ist nicht charakteristisch für ein Mittel und nicht individuell, sondern Ausdruck kollektiver Ängste eines Zeitalters:
In Zeiten als der Zugehörigkeit zum Adel eine große gesellschaftliche Bedeutung zukam, fand sich extrem häufig ein Abstammungswahn. Während und nach dem 3. Reich spielten Beeinflussungen durch Giftgas eine Rolle, während der 50er Jahre (Atom- und Wasserstoffbombenversuche) beunruhigten “Atomstrahlen” die Menschen, später waren es die Computer und die Angst vor elektronischer Gedankenbeeinflussung und jetzt ist es die CIA.

Im Gegensatz zum Wahninhalt ist es wichtig, wie der Wahn oder die Halluzinationen wahrgenommen werden; so weißt das Symptom “Gefühl als komme etwas aus der Ecke auf ihn zu” immer noch auf PHOS. hin.

Die Besonderheiten eines psychiatrischen Falles liegen im Bereich der körperlichen Krankheitszeichen, die sich durch Untersuchungstechnik erfahren lassen, wobei durchaus auch moderne Techniken ihren Platz haben.

Beispiel: Sehr viele Arzneimittel haben “Angst” in ihrem Mittelbild. Das liegt unter anderem daran, dass viele Pflanzen aber auch Mineralstoffe vor allem jedoch die Tiergifte giftig sind. Jeder, der von einer Schlange gebissen wird, hat Angst. Auch ist in unserem Kulturkreis die Angst vor einer Schlange endemisch und unabhängig von ihrer Giftigkeit. Angst erhöht den Puls. Auch das “Herzrasen” ist also nichts besonderes. Findet sich bei der Untersuchung (auch mit dem EKG) allerdings ein schneller und unregelmäßiger Puls (Tachyarrhythmie), so ist z.B. neben ACON. an ARS. zu denken.

Bei der Manifestation psychischer Störungen an inneren Organen spielt das vegetative Nervensystem und das limbische System die bedeutendste Rolle, weil dabei jede Nervenzelle auf jede Körperzelle auf verschiedenen Wegen Einfluss nehmen kann.
Primär ist das limbische System zuständig für den Gefühlsinhalt von Erlebnissen und Erinnerungen –also für die psychiatrischen = Gefühlssymptome aber auch für die neurologischen Symptome, da der Thalamus alle Afferenzen moduliert und interpretiert.
Über die Hypophyse und den Hypothalamus werden die humoralen Symptome und Zeichen erzeugt. Durch Neuropeptide steht das limbische System auch in Verbindung mit den immunkompetenten Systemen und kann über seine Verbindungen zum vegetativen Nervensystem direkt nerval oder indirekt humoral Informationen an jedes Organ oder Organsystem im Körper weitergeben.

Es ist daher nicht verwunderlich, wenn ein seelisches Trauma oder eine akute körperliche Störung zu sekundären komplexen Veränderungen des gesamten Systems führen.

Dabei scheint es so zu sein, dass zuerst Veränderungen in den vom Entoderm abstammenden Organen auftreten, dann die mesodermalen und schließlich die ektodermalen Organe betroffen werden. Jenen Prozess nannte WIPP Inaffinimentation.
Die Inaffinimentation spielt vor allem bei der Entstehung der chronischen psychiatrischen Erkrankungen eine bedeutsame Rolle. Die auslösenden Ursachen psychiatrischer Erkrankungen lassen sich oft nur mutmaßen und sie sind eher Gegenstand ideologischer Diskussionen ebenso wie die unterhaltenden Ursachen, die meist als Anlass zur Systemkritik aufgefasst werden. In der Regel lassen sich die unterhaltenden Ursachen – wenn überhaupt – nur metagnostisch festmachen. Fast immer ist man mit den Zeichen und Symptomen des Patienten in der Regel allein gelassen.

Ähnlich ist es beispielsweise im Bereich der Veterinärmedizin. Auch hier wird erfolgreich (ca. die Hälfte aller Tierärzte benutzt zumindest teilweise homöopathische Arzneien) fast ausschließlich mit Krankheitszeichen und fremdanamnestischen Berichten gearbeitet.

Bereits 1815 erschien von Carl Ludwig Gentzke (Tierarzt in Neustrelitz) eine erste Veröffentlichung zum Thema. 1837 erschien das erste Lehrbuch “Homöopathische Arzneimittellehre für Tierärzte”.

Theodor Träger (1801-1878) preußischer Oberroßarzt behandelte alle Pferde seines Trakehner-Gestüts homöopathisch. Der bayerische Kriegsminister verbot allerdings 1853 die homöopathische Behandlung von Militärpferden.

Akute psychiatrische Störungen lassen sich, wenn sie frisch sind (also etwa innerhalb der ersten 6 Wochen) nach der Ursache behandeln.

Später funktioniert eine Behandlung nach den Ursachen nur noch selten, weil das Krankheitsbild zu Veränderungen der inneren Organe geführt hat. Diesen Prozess nennt man Inaffinimentation. Sie geht auf den Münchner Nervenarzt und Homöopathen Wipp zurück.

Hierarchisierung:

I. Krankheitszeichen
1. Ordnung:
Äußere Krankheitszeichen wie Abmagerung, Gangstörungen und alle ohne Hilfsmittel erhebbare Befunde

2. Ordnung:
- 1. Innere Krankheitszeichen wie Auftreibung, Zwerchfellhochstand, Lebergröße und Funktionszustand im klinischen Sinn nach Palpation, Streichauskultation und Perkussion. Auskultation von Lunge und Herz, Magen, Darm
- 2. Ausscheidungen: Nase, Lunge, Darm, Nieren-Blasensystem, Schweiß, weibliche Organe
- 3. Leber- Blutchemie, Nierenclearance, Magen-Gallensonde u.s.w.

II. Krankheitszufälle (= Symptome)
1. Ordnung: Körperliche Zufälle wie Beschwerden und Schmerzen, Röntgen- CT und MRT-befunde, elektrophysiologische Befunde, Laborwerte des allgemeinen Stoffwechsels
Innere Zufälle wie Erschütterungsempfindlichkeit der Nierenlager, Druckschmerzhaftigkeit der Adnexe Hoden u.ä.
2. Ordnung: Seelische und geistige Zufälle

Die Mittel

Da gerade im Bereich psychiatrischer Erkrankungen eine Erstverschlimmerung fatale Folgen haben kann (z.B. Suizidalität) bewährt es sich auf Potenzen zurückzugreifen, bei denen keine Erstverschlimmerungen zu befürchten sind. Dieser Fall ist bei den LM-Potenzen (syn.: Q-Potenzen) gegeben.
In flüssiger Form haben sie zudem den Vorteil einer quantitativen Dosierbarkeit.
Die Art der Hierarchisierung führt zu sog. großen Mitteln, was nicht verwunderlich ist, da es sich bei den chronischen psychiatrischen Erkrankungen ausnahmslos um miasmatische Störungen handelt, die ebenso ausnahmslos großer, antimiasmatisch wirkender Arzneien bedürfen.

Gabengröße und –häufigkeit

Eine Faustregel bei der Behandlung psychiatrischer Erkrankungen ist die Gabe von 4mal täglich 4 Tropfen in 4 Esslöffeln Wasser. Bei fehlender Antwort kann die Gabengröße gesteigert werden.
Bei hochakuten psychiatrischen Syndromen bewährt sich die “Blocktherapie”. Dabei gibt man 4mal unmittelbar hintereinander 4-10 Tropfen in 4 Esslöffeln Wasser, und dies mindestens 4 x täglich.
Der Zeitpunkt, zu dem es notwendig ist, eine Potenz zu wechseln lässt sich mit einem Pulstest (modifizierter COCA-Test) einfach bestimmen: Man misst Puls und Blutdruck jeweils im Sitzen und im Stehen. Kommt es dabei nicht zu einer orthostatischen Reaktion (Verhalten des Blutdrucks) und ist die Pulsdifferenz größer als 8 pro Minute, dann muss entweder die Potenz gewechselt werden oder es ist ein neues Mittel (Neurepertorisation) angezeigt, anderenfalls können Mittel und Potenz beibehalten werden.
Die gebräuchlichen Potenzen sind LM 6, 12, 18, 30, 45. Die LM 24 wird nicht benötigt, Potenzen über die LM 45 werden kaum benötigt.

Behandlungsdauer:

Die Behandlungsdauer einer chronischen psychiatrischen Erkrankung liegt im Allgemeinen bei 5 bis 7 Jahren und unterscheidet sich damit nicht von den “anti-psorischen Kuren” anderer Fachgebiete.
Eine 5-7-jährige Behandlungsdauer bedeutet nicht, dass es dem Patienten durchgehend schlecht und erst in den letzten Tagen der Behandlung gut geht – eine Befürchtung, die viele Patienten vorbringen.
In der Regel ähnelt der Behandlungsverlauf einer ansteigenden Geraden, der eine Sinuskurve aufgelagert ist. Die Amplitude der Sinusschwingung (die therapeutisch durch eine engmaschige Überprüfung von Potenz und Mittel beeinflusst werden kann), ist für die Compliance maßgeblich.

Es würde eines Buches bedürfen, um die Untersuchungstechniken zu vermitteln, zumal das Wipp – Original vergriffen ist. Wie bereits oben erwähnt verlaufen psychiatrische Erkrankungen oft stereotyp, so dass “Kochrezepte” oft zum Erfolg führen.

Altersdepression: Arsenicum album ist fast immer das Mittel.
Reaktive Depressionen: Wenn frisch Natrium muriaticum, später Ignatia und Arsenicum album
Endogene Depressionen: Aurum metallicum und Hypericum
Stupor: Hierbei lohnt sich der Versuch einer homöopathischen Behandlung fast immer, weil die Alternative nur all zu oft in einer Elektrokrampfbehandlung besteht.
Totaler Stupor Helleborus
Subtotaler Stupor
(einsilbiges Antworten) Hyoscyamus
Nachbehandlung Phosphor
Phobien
Agoraphobie - Lycopodium
Nosophobie - Ignatia
Klaustrophobie - Lycopodium
Hydrophobie - Calcium carbonicum

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Literaturverzeichnis:
Hahnemann, S.: Organon der Heilkunst (Ausgabe 6 B), Haug Verlag, Heidelberg, 1982
Wipp, B.:Homöopathie in Neurologie und Psychiatrie, Haug, Heidelberg, 1979
Wipp, B: Persönliche Mitteilungen

Anschrift des Verfassers:
Dr. med. J. Schleimer
Neurologie – Psychiatrie Sozialmedizin
Waltramstr. 3
81547 München



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