Josef Angerer 100

Befunderhebung aus dem Auge: Die Anatomie der Iris und ihre Bedeutung

Von Hermann Biechele

Alle iridologischen Lehrbücher und „Schulen“ bauen ihre augendiagnostischen Konstitutionsmodelle (inklusive Dispositionen und Diathesen), die Zeichenlehre und letztlich die gesamte Befunderhebung auf anatomischen Merkmalen des Auges auf.

Tradierte Lehrmeinungen und Vorstellungen bestimmen unsere Denkgewohnheiten – und diese wieder unsere Wahrnehmung. In diesem Sinn ist der ganz richtige Satz „Wir sehen nur, was wir kennen“ zu ergänzen mit: „... und was wir gelernt haben, für richtig zu halten.“ Es handelt sich dabei um ein gemeinsames erkenntnistheoretisches Problem aller natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen, aber das sei nur am Rande bemerkt.

Weil es in der Iris- und Augendiagnose schon von Anfang an keine einheitliche Systematik und Nomenklatur gab, kam es ganz unvermeidlich zu Unterschieden in der Terminologie. Auch wenn dieser Zustand nicht die Ausmaße einer im biblischen Sinn babylonischen Sprachverwirrung erreichte, erschwerte er den Wissens- und Erfahrungsaustausch teilweise doch erheblich und führt bis heute immer wieder zu Missverständnissen. Gerade Anfänger der Augendiagnose verlieren da leicht den Überblick – und manchmal auch den Mut, weiter zu lernen.

Um nur ein Beispiel aus der jüngeren iridologischen Literatur zu bringen: wenn von Lakunen, Waben, Krypten und Defektzeichen die Rede ist, spricht Josef Deck von „Strukturzeichen“, während Josef Angerer sie „Formale Zeichen“ nennt. Auflockerungen der Iris, Radiären, aberrate Fasern und Transversalen fasst Josef Deck unter „Reflektorische Zeichen“ zusammen, Josef Angerer unter „Strukturelle Zeichen“. Wische, Tophi und Plaques kategorisiert Deck als „Depositionszeichen“, Angerer als „Physiologische Zeichen“. Noch gar nicht berücksichtigt sind dabei die Unterschiede zwischen klinisch-ophthalmologischer und augendiagnostischer Nomenklatur!

Die Definition der vorgenannten Zeichen ergibt sich nicht zuletzt aus der Anatomie der Iris. Diese ist nicht ganz einfach, was dazu führt, dass sich in den verschiedenen Lehrbüchern unterschiedliche anatomische Darstellungen finden, die sich zum Teil nicht unerheblich widersprechen. Erschwerend kommt hinzu, dass in der gesamten Literatur relativ unkritisch immer wieder auf ältere Werke Bezug genommen wird, ohne die Richtigkeit und Plausibilität der gemachten Aussagen anhand neuerer Erkenntnisse und Methoden zu prüfen. Salopp gesagt: man schreibt voneinander ab und nimmt dabei etwas als gegeben hin, weil es immer schon so beschrieben wurde.

Anatomie der Iris

Wabenstruktur

Histologie der Iris

Schlussbemerkung

Anhand der Strukturzeichen sollte der Zusammenhang gezeigt werden zwischen anatomischen und physiologischen Voraussetzungen der Zeichenentwicklung einerseits und den sich daraus ergebenden diagnostischen Schlussfolgerungen andererseits. Dies gilt im selben Maß auch für die reflektorischen Zeichen und Pigmente – Gegenstand möglicher weiterer Arbeiten.

Die Augendiagnose unterliegt wie jede Wissenschaft dem historischen Wandel. Moderne Erkenntnisse lassen Altvertrautes in neuem Licht erscheinen und zwingen gelegentlich zu Korrekturen, was nicht immer einfach ist – und nicht alles ist schon deswegen „richtiger“ nur weil es neu ist. So liegt mir jegliche Besserwisserei fern. Mein Anliegen ist es vielmehr, ein wenig Klarheit zu bringen in das manchmal quälende Spannungsfeld zwischen „harten Fakten“ und deren notwendigerweise immer auch persönlich geprägter Deutung. In diesem Sinn schreibt Josef Angerer über das Wesen der Diagnostik optischer Reflexsetzung (Augendiagnose), damit werde „der Zusammenhang von Bios und Kosmos (enthüllt), der das menschliche Dasein aufleuchten lässt im funktionellen Kräfteverhältnis zur ganzen Schöpfung, der in der Physis die Spuren der Metaphysis bloßlegt und so auf den Trümmern eines omnipotenten Materialismus eine neue Ganzheitsschau ermöglicht.“ (Josef Angerer, Handbuch S. 12). Aber vergessen wir dabei auch nicht, wie Josef Deck mahnt: „Die Iris ist die Regenbogenhaut des Auges und nicht das Reflexfeld für die Fantasie des Betrachters“ (mündlich zitiert von R. Stolz).

Im Arbeitskreis für Augendiagnose und Phänomenologie Josef Angerer haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, an dieser Problematik zu arbeiten. Nicht zuletzt deshalb haben wir die diesjährige, Josef Angerer zum 100. Geburtstag gewidmete „Münchner Fachtagung für Augendiagnose“ unter das Motto gestellt: „Augendiagnose im Spiegel der Zeit“. Dabei ist es seit langem gute Tradition, dass im Rahmen dieser Fachtagungen Referenten unterschiedlicher augendiagnostischer Richtungen sprechen. Und dabei hat es sich auch immer wieder gezeigt, dass die Unterschiede längst nicht so groß (gewesen) sind wie die Übereinstimmungen. Überzeugen Sie sich davon – kommen Sie, hören Sie, schauen Sie selbst.

...

Literaturliste
Angerer, Josef. Handbuch der Augendiagnostik. München 1984 (5).
Angerer, Josef. Ophthalmotrope Phänomenologie. München 1981.
Broy, Joachim. Repertorium der Irisdiagnose. München 1983.
Broy, Joachim. Die Konstitution. Humorale Diagnostik und Therapie. München 1992 (2)
Deck, Josef. Differenzierung der Iriszeichen. Lehrbuch II mit Bildatlas und Therapiehinweisen.
Deck, Josef. Grundlagen der Irisdiagnostik. Lehrbuch mit Bildatlas und Therapiehinweisen.
Hauser, Willy; Karl, Josef; Stolz, Rudolf. Iridologie 1. Informationen aus Struktur und Farbe. Heimsheim 1998.
Hauser, Willy; Karl, Josef; Stolz, Rudolf. Iridologie 2. Methodik, Phänomene, Erkrankungen. Gerlingen 2006.
Heine, Hartmut. Lehrbuch der biologischen Medizin. Grundregulation und Extrazelluläre Matrix. Stuttgart 2006 (3)
Herget/Schimmel. Grundsätzliches zu Zeichen und Pigmenten in der Iris und deren physiologische Zusammenhänge. Das Rezept aus dem Auge. Aus der wissenschaftlichen Abteilung der Pascoe Pharmazeutische Präparate GmbH, Gießen 1972
Hogan, Michael J.; Alvarado, Jorge A.;Weddel, Joan. Histology of the Human Eye. Philadelphia, London, Toronto 1971
Kanski, Jack J.; Lehrbuch der klinischen Ophthalmologie. Stuttgart, New York 1996
Kriege, Theodor. Grundbegriffe der Irisdiagnostik. Osnabrück 1976
Lang, Walter. Die anatomischen und physiologischen Grundlagen der Augendiagnostik. Ulm 1954
Lauber, H. Das Auge. In: Möllendorf, V.: Handbuch der Histologie 1936
Lindemann, Günther. Augendiagnostik-Lehrbuch. Befunderhebung aus dem Auge. München 1984.
Liotet, Serge. Clergue, Gérard. Rasterelektronenmikroskopie des Auges. Stuttgart 1985
Naumann, G. O. H. Pathologie des Auges. 1998
Rehwinkel, Jürgen; Wenske, Sigolt. Augendiagnose. Iris-Konstitution – Iris-Strukturen – Iris-Pigmente. Erhältlich beim Uslarer Kreis.
Rimpler, Manfred. Bräuer, Hans. Matrixtherapie. Tuningen 2004
Streif, W. zitiert bei Lang und Deck, Grundlagen S.13.
van den Toorn, Piet. Eine Entdeckungsreise durch die Augendiagnose. In: Naturheilpraxis. Fachzeitschrift für Naturheilkunde, Erfahrungsheilkunde und biologische Heilverfahren. 8/1994
Van den Toorn, Piet. Iris und Bindegewebe: in: Naturheilpraxis. Fachzeitschrift für Naturheilkunde, Erfahrungsheilkunde und biologische Heilverfahren 03/2000
Vogt, Werner. Das Auge als Spiegel der Gesundheit. München 2002
Wolfrum. Handbuch der gesamten Augenheilkunde. Berlin 1931
Ziegelmayer, Gerfried. Irisbild und Gesamtkonstitution. Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München 1952

Anschrift des Verfassers:
Hermann Biechele
Kaiserstr. 51
80801 München



weiter ... (für Abonnenten der Naturheilpraxis)


Zum Inhaltsverzeichnis 06/2007

Naturheilpraxis 06/2007