Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur und Traditionelle Chinesische Medizin e.V.

Der Doppelpalast Chinas

Von Steven Clavey

„Die chinesische Medizin ist ein Schatzhaus“ sagte Mao, und dies hat sich in der Tat als richtig bewiesen. Für diejenigen von uns, die diesen Berufszweig gewählt haben, ermöglicht sie uns zumindest, auf eine befriedigende und ethische Art unser Einkommen zu verdienen. Je mehr wir uns jedoch mit der chinesischen Medizin beschäftigen, desto mehr entpuppt sie sich als eine beträchtliche, mit Schätzen gefüllte Lagerhalle. Jeder Raum dieses Lagers enthält Informationen in Hülle und Fülle darüber, wie wir unsere eigene Lebensqualität und die unserer Mitmenschen verbessern können.

Einer der Räume mag vielleicht Fachwissen über Spezialgebiete wie die Pädiatrie oder Augenheilkunde enthalten, oder Informationen über Kräuteranbau und –ernte. Manche Räume sind größer als andere. Ein kleiner, aber sehr populärer Raum wird von Milliarden Menschen besucht, die Aspekte der chinesischen Diätetik anwenden. Wir aus dem Westen haben bisher kaum einen Blick in einige dieser Räume geworfen: ein Beispiel wäre die meteorologisch-medizinische Lehre des wuyun liuqi.

Während wir dieses Lager erforschen, werden wir vielleicht eine Transformation durchlaufen. Es wird die Herausforderung an uns gestellt, unser Selbstbild und unsere Weltanschauung, unser Verständnis darüber, warum wir existieren und wie wir funktionieren, ja sogar unser Verständnis über die Reichweite unserer eigenen Körperoberfläche zu überprüfen.

Eine der größten Hallen in diesem Lager ist gefüllt mit dem Wissen über die Zirkulation des Qi, sowohl innerhalb wie außerhalb der Meridiane. Wir könnten sie fast ‚die Halle des Qi’ nennen, denn sie ist der Ursprung der Akupunktur, von Shiatsu, Qigong und den meisten chinesischen Kampfsportarten. Wer sich mit Qigong und Kampfsport (insbesondere den ‚internen’ Arten mit ihrem Schwerpunkt auf innerem Gleichgewicht) beschäftigt, wird nach einiger Zeit (im Allgemeinen nach fünf Jahren) ein natürliches Gefühl für Qi entwickeln.

Eine ältere chinesische Akupunkturlehrerin, die seit vielen Jahren auch Tai Ji praktizierte, konnte fast nicht glauben, dass ihre ausländischen Studenten fragten: „Woher wissen Sie denn, dass der Akupunkturpunkt oder Meridian genau an dieser Stelle ist und nicht woanders?“ Sie antwortete schließlich: „Ja, spürt ihr das denn nicht?“

Es scheint, als ob wir moderne Kultursnobs diejenigen sind, denen ein Feingefühl auf diesem Gebiet fehlt.
Ist es möglich, dass es eine andere Art der Wahrnehmung gibt, die in unserer Gesellschaft schlichtweg nicht vorhanden ist, während sie in anderen Kulturen alltäglich ist?

Wenn wir in Zukunft auf diesem Gebiet Fortschritte machen, werden Studenten der chinesischen Medizin mehr mit dem Körper anstatt nur mit dem Kopf lernen; werden Qigong, Tai Ji oder interner Kampfsport Pflicht- statt Wahlfächer sein, die von Experten unterrichtet werden. Wir sollten hier betonen, wie wichtig Yang Sheng Übungen sind – nicht nur für die Gesundheit der Therapeuten, sondern auch um aus eigener Erfahrung einen tieferen Einblick in diese Kunst zu bekommen.

Von der ‚Halle des Qi’ gelangt man in einen Nachbarpalast, den ‚Palast des Daoismus’ (den Mao seltsamerweise nie erwähnte), der direkt an den ersten Palast angrenzt.

Die chinesische Medizin spielte für den Daoismus schon sehr früh eine wichtige Rolle, aber daoistische Einflüsse tauchen auch in der chinesischen Medizin auf. Zahlreiche bekannte Autoren waren ebenso bekannt für ihre daoistischen wie medizinischen Werke: Ge Hong (Zhou Hou Bei Ji Fang), Tao-Hong Jing (Ming Yi Bie Lun, Ben Cao Jing Ji Zhu), Sun Si-Miao (Qian Jin Yao Fang), Meng Shen (Shi Liao Ben Cao) und sogar Wang Bing, der berühmte Kommentator des Huang Di Nei Jing aus der Tang Dynasty, dessen Standardwerk wir noch heute benutzen.

Sie alle sind Autoren daoistischer Texte. Dieser Trend setzt sich durch die Geschichte der chinesischen Medizin fort: Ma Dan-Yang, zum Beispiel, ist der Autor des Ma Dan-Yang Tian Xing Shi Er Xue Ge (Die himmlischen Sternpunkte des Ma Dan-Yang), aber er ist bekannter dafür, dass er einer der sieben berühmten Schüler von Wang Chong-Yang und seiner ruhmreichen Frau Sun Bu Er – Sun der Einzigartigen, war.

Der Sinn dieser Rückschau ist, diese Verbindung zwischen der chinesischen Medizin und dem Daoismus hervorzuheben – für die wenigen, denen dies vielleicht nicht bewusst ist-, aber auch um Neugier zu erwecken, und sich die Frage zu stellen, warum diese Verbindung so stark ausgeprägt ist. Haben diese Daoisten, diese Alt-Wissenschaftler, nicht nur wirksamere Kräutersubstanzen und Anwendungen von Akupunkturpunkten entdeckt, sondern auch einen anderen Weg gefunden, der ihre Medizin verbesserte?

Zum Glück ist Daoismus eine ‚Philosophie“ des Lebens, und sein Studium (Dao Jia) unterscheidet sich von der Dao Religion (Dao Jiao), die den oben genannten Autoren völlig fremd gewesen wäre. Die „Philosophie“ beinhaltet vieles, das den eigenen Glauben (unabhängig von der Religionsrichtung) bereichern kann – aber dies ist etwas, das die LeserInnen selbst herausfinden können.

(Editorial, The Lantern Vol. 2.1, 2005. Übersetzung aus dem englischen von Bettina Brill)
`... Essays, Fallstudien, Auszüge aus bisher unübersetzten Texten ...`
The Lantern

Ein australisches qualitativ sehr hochwertiges Journal, welches seinen Fokus auf die traditionellen und klinischen Aspekte der chinesischen Medizin legt.

The Lantern beabsichtigt den Zugang zu den zahlreichen Quellen der Tradition der chinesischen Medizin zu unterstützen. Der Schwerpunkt liegt auf der traditionellen Sichtweise und ihrer praktischen Anwendung.

Essays, moderne und alte Fallstudien, Auszüge aus noch nie zuvor übersetzten klassischen Texten sind in unserem Journal zu finden. Unser Anliegen ist es über die ganze Bandbreite die Tradition der chinesischen Medizin zu reflektieren. Die Techniken der chinesischen Medizin mögen sehr viele sein, aber die traditionelle Sichtweise, den Menschen als einen integrierten Teil, tatsächlich als eine Reflexion der sozialen, meteorologischen und kosmischen Einheit zu sehen bleibt tatsächlich nur eine.

Wir wünschen uns diese Betrachtungsweise zu pflegen und zu fördern.

Autoren:
Steven Clavey,
Bettina Brill,
Michael Ellis
Textsprache: Englisch

Im Mai in Rothenburg wird ein Interview und Diskussionsforum über die „Lantern, Aufgaben und Ziele einer TCM-Zeitschrift“ stattfinden.

Datum und Zeit: Freitag, 18. Mai, 13.30–14.30 Uhr.

Ort wird noch bekannt gegeben.



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