BETRACHTUNG

Arztsein auf dem Dach der Welt

Von Hermann Speiser

Etwa um 560 a. Chr. wurde Prinz Siddharta Gautama am Fuße des Himalaja im heutigen Uttar Pradesh in Indien geboren, als Zeitgenosse von Pythagoras und Konfuzius. Sein fürstlicher Vater aus dem Geschlecht der Shakya fürchtete eine Weissagung, dass sein Sohn einst der Welt entsagen würde, weshalb er ihn umgeben von orientalischem Luxus erzog, doch völlig abgeschlossen von der Außenwelt. Aber alle Vorkehrungen gegen des Schicksals Lauf waren vergeblich.

Mit 29 Jahren verließ Gautama Frau und Kind und begab sich als wandernder Bettelmönch auf die Suche nach spiritueller Belehrung, die er nirgends fand. Schließlich zog er sich enttäuscht im Dorf Bodh Gaya unter einen uralten Feigenbaum in tiefe Meditation zurück, wo ihn plötzlich der Blitzstrahl der Erleuchtung traf: der Buddha war geboren! Er sah das menschliche Leben als eine Kette von Leiden. Er sann darüber nach, ob es nicht eine Möglichkeit der Leiderlösung gibt – und entdeckte den “8-fachen Pfad”, den jeder einschlagen kann, der rechte Erkenntnis und Gesinnung übt, rechtes Bedenken, Reden und Handeln, rechtes Leben und Streben und das Sich-Versenken.

Diesen steinigen Pfad zu gehen erfordert allerdings den Mut zu einer radikalen Umkehr in den bisherigen Lebensgewohnheiten, den nur wenige aufbringen – also nichts für die großen Massen.

80 Jahre alt erlosch der Vollendete zu Kusinara im Lande der Maller. Seine letzten Worte an die Getreuen lauteten: “Wohlan denn ihr Mönche, lasst euch gesagt sein: schwinden muss jede Erscheinung, und unermüdlich mögt ihr kämpfen.”

Nach Buddhas Tod spaltete sich seine Lehre, der Buddhismus, in mehrere Sekten, wobei sich zwei große Schulen herauskristallisierten, das Hinayana, das “kleine Fahrzeug”, und das Mahayana, das “große Fahrzeug”.

Im “kleinen Fahrzeug” ist nur für einen Platz, der für sich allein dem Ziel der Erleuchtung zustrebt (Ceylon), das “große Fahrzeug” dagegen bietet vielen Platz auf dem Weg zur Leiderlösung. Beide Schulen stützen sich auf verschiedene Aussprüche Buddhas, auf die wir hier nicht näher eingehen können. Wir befassen uns in diesem Aufsatz mit dem Mahayana tibetischer Ausprägung, das sich in manchem mit dem vorbuddhistischen Bön-Zauberglauben mit seinen Göttern, Geistern und Dämonen vermischte. So entstand dort neben dem reinen Buddhismus eine Art Mischreligion, die weitverbreitet ist.

Frau David-Neel erzählt interessanterweise, dass die Tibeter bei Krankheiten und Unfällen nie an eine natürliche Ursache glauben. Sie sehen in alldem das Werk böser Geister, die es auf die Lebenskraft des Menschen abgesehen haben, um sie sich dienstbar zu machen oder um an ihnen zu zehren.
Eine Besonderheit in Tibet ist die Existenz zweier geistiger Oberhäupter, des Dalai und des Pantschen Lama, wobei ersterer zugleich auch weltliches Oberhaupt des Landes ist. Buddha war kein Religionsgründer wie Christus oder Mohammed, er lehrte eine Erkenntniswissenschaft. Seine Mönche ermahnte er: “Ihr selbst müsst euch anstrengen – die Vollendeten verkünden nur.”

Um wieder nach Tibet zurückzukehren. Verwirrung besteht im Westen oft über den Begriff “Lama”. Der heute lebende XIV. Dalai Lama stellt richtig: “Manche Leute hegen die Vorstellung, die Religion Tibets sei die Religion der “Lamas”, die ein System namens “Lamaismus” fabrizierten. Sie sagen auch, dieses sei weit entfernt von den wahren Lehren Buddhas. Solche Vorstellungen beruhen auf einem krassen Mangel an Information, da kein separater “ismus” der Lamas neben den Lehren Buddhas existiert.” Dazu muss man wissen, dass Lama und Mönch durchaus nicht identisch sind. Lamas sind spirituelle Meister und Respektspersonen, die Mönche sein können, aber nicht sein müssen, obwohl sie es meistens sind.

Da die tibetische Medizin, die uns hier beschäftigt, in der Regel in Klöstern gelehrt wird, sind die Lehrer oder Professoren selbstverständlich gleichzeitig Mönche und Lamas.
Der scheinbare Widerspruch zwischen der Klarstellung des Dalai Lama und unserer vorhergehenden Bemerkung über die Existenz einer Art Mischreligion löst sich auf, wenn wir sehr vereinfachend annehmen, dass die reine Lehre Buddhas von den Lamas und dem hohen Adel befolgt wird, das Volk dagegen dem sogenannten Bön-Buddhismus anhängt. Die Bön-Geister hat man beschwichtigt, indem man sie zu Beschützern des Buddhismus ernannt hat. So lebt alles friedlich miteinander, und so konnten die mit einer unglaublichen Pracht ausgestatteten Tempel entstehen. In Gold und Silber und kostbaren Edelsteinen erstrahlen Altäre, Statuen und liturgische Gerätschaften, während die Wände feingemalte Thankas schmücken, die unseren religiösen Bildern entsprechen. Musik und übers Jahr verteilte farbenfrohe Feste erwärmen Herz und Gemüt.
Gebildete Lamas und der hohe Adel führten jahrhundertelang ein zufriedenes Volk von ca. 7-8 Millionen auf einer Fläche 5x so groß wie Frankreich. Aber wo Menschen sind, menschelt es auch, davon machte auch Tibet keine Ausnahme. Selbst im Potala, dem Regierungspalast des Dalai Lama gab es Eifersüchteleien, Neid, Missgunst und handfeste Intrigen. Die Kontinuität des gesellschaftlichen Gefüges litt darunter nicht, was für seine Solidität spricht, bis am 9.September 1951 der Einmarsch der chinesischen “Volksbefreiungsarmee” in Lhasa Tibet den Todesstoß versetzte. Trotzdem wird der Dalai Lama, der den kommunistischen Verfolgern nach Indien entkommen konnte, von vielen Tibetern nach wie vor als ihr legitimes geistliches und weltliches Oberhaupt anerkannt – zum Ärger der Chinesen und ein stetes Ärgernis für den Westen, dem lukratives “Business” über alles geht.

...

1) tib. Behandlungsmethoden und Pharmakologie sind nicht Gegenstand unseres Themas

Literatur:
P. CYRILL VON KORVIN-KRASINSKI O.S.B.: Die tibetische Medizinphilosophie. Origo Verlag Zürich, 1953
P. CYRILL VON KORVIN-KRASINSKI O.S.B.: Trina Mundi Machina. Grünewald Verlag Mainz, 1986
P. CYRILL VON KORVIN-KRASINSKI O.S.B.: Die geistige Erde. Origo Verlag Zürich, 1960
DALAI LAMA: Die Wahrheit des Verzeihens. Lübbe Verlag, 2004
DALAI LAMA: Das Auge der Weisheit. O.W. Barth Verlag, 1975
LAMA TSCHÖGYAM TRUNGPA: Spiritueller Materialismus. Aurum Verlag Freibg i. Brsg. ,1975
TENZIN CHOEDRAK: Der Palast des Regenbogens. Insel Verlag, 1999
A. DAVID-NEEL: Arjopa. Brockhaus Leipzig, 1928
NEUMANN, EUGEN: Die letzten Tage Gotama Buddhas. Piper Verlag München, 1911

Anschrift des Verfassers:
Dipl. rer. pol. Hermann Speiser
Wilhelm Speiser-Weg 3
73033 Göppingen



weiter ... (für Abonnenten der Naturheilpraxis)


Zum Inhaltsverzeichnis 05/2007

Naturheilpraxis 05/2007