Blätter für klassische Homöopathie

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Klassische Homöopathie

Akute Krankheitszustände aus Sicht eines Sherlock Holmes:

Leitsymptome bei der klassisch-homöopathischen Behandlung Fortsetzung aus NHP 03/2007

Von Henning Marx

Fragestellung

Anhand mehrerer Fallbeispiele aus der Praxis soll untersucht werden, welche Bedeutung der Kenntnis um die sogenannten Leitsymptome der Materia medica homöopathica bei der Auswahl eines homöopathisch eingesetzten Arzneimittels zukommt.

An verschiedenen Stellen ergaben sich weitere spannende Fragen – unabhängig von dem gewählten Thema. Von einer ausführlichen Beantwortung dieser Fragen musste leider abgesehen werden, da dies zum einen den Rahmen des Artikels gesprengt und zum anderen dessen Prägnanz vermindert hätte.

Fall 4: Ischialgie nach vermutetem Verheben

Eine 65-jährige Patientin meldete sich am 11.02.05, weil sie seit 2 Wochen anhaltende Ischias-Beschwerden habe. Die Schmerzen träten immer wieder im rechten Bein auf. Sie vermutete, dass der Ischiasnerv komprimiert werde, wenn sie größere Gewichte hebe, da ihre Bandscheiben und Wirbelkörper schon seit Jahren stark abgenutzt seien. Sonst seien die Beschwerden allerdings immer nach einigen Tagen vergangen.

Akutes Beschwerdebild:
Dieses Mal seien die Schmerzen erheblich schlimmer als sonst und nähmen kaum wieder ab. Ursache sei wohl das Heben von mehreren schweren Blumenkästen, sie könne sich aber auch verlegen haben. Die starken Schmerzen hätten einen Tag nach der genannten Anstrengung beim Heben begonnen. Der Schmerz sei dauerhaft vorhanden. Es handele sich um einen ziehenden Schmerz an der Außenseite des rechten Beines von der Hüfte bis etwa zum Knie oder auch teilweise bis zum Knöchel. Sobald sie 10-15 Minuten auf einer Seite liege, würden die Schmerzen unerträglich. Nur in Rücken- oder Bauchlage könne sie einschlafen. Während langsames Gehen die Schmerzen verschlimmere, würden sie durch schnelles Gehen etwas gebessert.
(Repertorisation 4 - siehe Naturheilpraxis 04/2007)

Arzneimittelwahl mit Begründung:
Es handelte sich um ein chronisches Geschehen, im Rahmen dessen es zu einer akuten Exazerbation gekommen war. Gemäß Hahnemanns Aussagen und der Erfahrungen in der klassischen Homöopathie ist es in einem solchen Fall angeraten, eine Therapie mit einem akuten Arzneimittel zu beginnen. Insofern steht der Wunsch der Patientin nach einer rein akuten Behandlung der Beschwerden der Chronizität ihrer Erkrankung nicht entgegen.

Die Repertorisation legte 3 kleine Arzneimittel nahe: Rhus toxicodendron, Colocynthis und Phytolacca. Leider lässt sich in der Materia medica die Beschwerde nicht genau wie von der Patientin beschrieben finden. Für Rhus toxicodendron könnte das Verheben sprechen, ebenso die Lokalisation, wenn auch nicht auf der rechten Seite und eine Verschlechterung durch Seitenlage im Allgemeinen. Colocynthis hat die Lokalisation auch auf der rechten Seite, Phytolacca ebenso und in höherem Grad. Das am zweifelsfreiesten vorhandene sonderliche Symptom war die Erstreckung der Beschwerden außen am Oberschenkel von der Hüfte bis zum Knie, nur selten bis zum Knöchel. Die Ursache des Verhebens wurde lediglich vermutet. Die Verschlechterung in Seitenlage ist weniger sonderlich, da hierdurch die Wirbelsäule gekrümmt wird und so die Kompression der Nerven zunimmt. Rhus toxicodendron wurde dementsprechend aus dem weiteren Entscheidungsprozess herausgenommen. Colocynthis und Phytolacca lassen sich anhand der Materia medica nicht eindeutig weiter differenzieren. Den Ausschlag für Phytolacca gab hauptsächlich, dass es die Lokalität mit seiner Erstreckung als Leitsymptom in seiner Symptomenreihe aufweist. Zudem ist in ähnlichem Zusammenhang eine Besserung durch kräftiges Gehen bekannt.

Verordnung:
Phytolacca D12 Dilution 3 Tr. in 200ml, davon 1 Tl. 3x täglich für 3 Tage, danach 1x täglich. Nach der ersten Einnahme sollte die Dilution vor jeder weiteren Einnahme 10x kräftig verschüttelt werden.
Meldung am 17.02.05:
Nach Erhalt der Arznei über die Apotheke habe sie am 15.02. mit der Einnahme begonnen, woraufhin zunächst eine Besserung eingetreten sei; heute sei es aber wieder schlechter.

Verordnung:
Pause bis Sonntag (20.02.) und falls die Beschwerden am Sonntag nicht deutlich besser wären, ab Montag 1x täglich weiter einnehmen.
Meldung am 14.03.05:
Die Verschlimmerung sei zurückgegangen, am Sonntag aber keine weitere Besserung zu verzeichnen gewesen. Sie habe dann weiter täglich eingenommen mit deutlicher Besserung und nach der 25. Einnahme aufgehört, da seit der 20. Einnahme keine Schmerzen mehr aufgetreten seien.

Kommentar:
Auch in diesem Behandlungsfall war das Wissen um die Leitsymptome von großer Bedeutung, nachdem keine weiteren Hinweise zu erhalten waren. Der Fall zeigt auch, dass es gut war, die vermutete Causa nicht als Auswahlkriterium hinzuzuziehen, da dadurch Phytolacca als mögliches Heilmittel ausgeschieden wäre. Die prompte Reaktion erlaubte den Schluss, dass zu dieser Zeit keine andere Arznei eine bessere Wirkung entfaltet hätte.4

Fall 5: Tendinitis durch Überlastung

...

Anm.:
1. Alle im Text angegebenen Paragraphen beziehen sich auf Hahnemanns Organon (s. Literaturhinweise).
2. Hahnemann hat die Begriffe nicht ganz stringent und zwingend alternativ verwendet. Im § 153 verwendet er den Begriff „charakterisch“ in Klammern hinter dem Begriff „eigentümlich“, was den Schluss nahe legt, dass Hahnemann beide Begriffe synonym versteht. Im § 133 erklärt Hahnemann, dass die Modalitäten das „Eigenthümliche und Charakteristische“ eines Symptoms offenbaren. Es scheinen hier eher 2 Aspekte vorzuliegen, was der Struktur im § 153 widerspräche. Zudem sind für Hahnemann die Nebenzufälle charakteristisch, was er im § 95 beschreibt. An dieser Stelle bezeichnet er diese nicht gleichzeitig als eigentümlich. Zusätzlich ergibt sich aber aus dem Zusammenhang des § 95 am Anfang, dass Hahnemann die Nebenzufälle zur Gruppe der „kleinsten Einzelheiten“ zählt, die „... am sonderlichsten sind“. Daraus folgt wiederum, dass die Nebenzufälle als deren Teilmenge ebenfalls als sonderlich zu bewerten sind. Einige Autoren differenzieren die Aufzählung im § 153 dennoch, wobei beispielsweise alle Symptome als auffallend bewertet werden, die tatsächlich ins Auge fallen. Eine Nebenbeschwerde gemäß § 95 kann aber auch ins Auge fallen und wäre somit auffallend und charakteristisch, vielleicht auch eigentümlich oder sonderlich zu nennen. Dies hat für die Praxis keinen weiteren Nutzen. Wichtig ist, dass die Qualität eines Symptoms dem Bedeutungsgehalt des § 153 gemäß der teleologischen Auslegung entspricht.
3. Im Kent´schen Repertorium (s. Literaturhinweise) finden sich folgende Rubriken: Rückenschmerz, wund wie zerschlagen, Lumbalregion: Rhus-t 3-wertig; Rückenschmerz, stechend, Lumbalregion: Bry 3-wertig, Rhus-t nicht angegeben; Rückenschmerz, stechend: Bry 3-wertig, Rhus-t 2-wertig. Die Symptomenreihe von Rhus toxicodendron weist immerhin stechende Schmerzen allgemein im Rückenbereich auf, charakteristischerweise liegen diese allerdings bei Bryonia vor. Für Rhus toxicodendron wäre im Lumbalbereich ein Schmerz wie wund und zerschlagen typischer.
4. Die Reaktion der Patientin auf die Arznei enthält genau genommen zwei Hinweise. Die erneut auftretende Verschlechterung zeigte an, dass die Arznei am Beginn der Einnahme zu hoch dosiert war, was eine individuelle Anpassung an die Rezeptivität der Patientin erforderte. Die zunächst unmittelbar einsetzende Besserung signalisierte aber bereits früh, dass die Arznei passend gewählt war und bestätigte somit, dass die bisher gemachten Überlegungen richtig waren.
5. Grundsätzlich sollte über das Fehlen eines Symptoms keine Arzneimittelwahl begründet werden. In der Arzneimittelprüfung sind die Symptome verschiedener Prüfer zusammengefasst und das Ergebnis wurde später zusätzlich mit den Erfahrungen aus der Praxis ergänzt. Eine Arzneiwahl ist nur dann absolut sicher, wenn sie positiv begründet wird. Eine positive Begründung ist dann gegeben, wenn sich die Beschwerden des Patienten in der Symptomenreihe einer Arznei widerspiegeln. Eine negative Begründung (Fehlen eines Symptoms) birgt immer die Gefahr, dass das Fehlen im konkreten Fall nur dadurch bedingt ist, dass dieser Patient in seiner Individualität anders reagiert als die bisherigen Prüfer der ansonsten in Frage kommenden Arznei. Bei Polychresten ist das Problem eher gering anzusehen, bei kleineren, weniger geprüften Arzneimitteln nimmt es hingegen zu. Es sollte sic gering anzusehen, bei kleineren, weniger geprüften Arzneimitteln nimmt es hingegen zu. Es sollte sich bei der Arzneiwahl daher in erster Linie auf die tatsächlich vorhandenen Symptome bezogen werden. Im oben dargelegten Fall gab es allerdings keine Symptome, die zur weiteren Differenzierung hätten verwendet werden können. Es ging nur um Nuancen in der Unterscheidung zwischen Ruta und Rhus toxicodendron, die sich im Ausnahmefall vielleicht nur im Fehlen eines Leitsymptoms ausdrücken können.
6. Die antidotierende Wirkung von Kaffee wird kontrovers diskutiert, insbesondere bei einem relativ späten Zeitpunkt im Verhältnis zur Arzneimitteleinnahme. An dieser Stelle muss jeder Therapeut seine eigenen Beobachtungen anstellen. Ruta wurde in der Potenz C200 verabreicht, da diese Potenz bisher bei Sportverletzungen in der Regel Heilung nach einer Gabe erzielt hatte. Das abrupte Abbrechen der stetig fortschreitenden Besserung auf das vorhergehende Krankheitsniveau zum Zeitpunkt des Kaffeekonsums legte den Schluss der Antidotierung durch den Kaffee nahe. An dieser Stelle kann allerdings auch die Auffassung vertreten werden, dass die Arzneimittelwirkung ohnehin beendet war. Wichtig ist in einer solchen Situation vor allem, dass der Behandler sich sicher ist, dass eine erneut auftretende Verschlechterung nicht nur ein vorübergehendes Ereignis im Rahmen der noch anhaltenden Arzneimittelwirkung darstellt, da in dieser Situation eine vorzeitige Wiederholung der Arznei zu unerwünschten Reaktionen führen würde. Aufgrund der Art und Stärke der erneut auftretenden Verschlechterung war dies im vorliegenden Krankheitsfall mit relativ großer Sicherheit auszuschließen.
7. Auch wenn in diesem Fall das Fehlen eines Leitsymptoms von Rhus toxicodendron einen Aspekt der Begründung für den Beginn der Therapie mit Ruta darstellt, wäre Rhus toxicodendron bei nicht eingetretener Besserung vermutlich das indizierte Heilmittel gewesen. Das Fehlen des Leitsymptoms wurde nur zu einem relativen Ausschluss gegenüber Ruta verwendet, um die Nuancen beider Arzneimittel bezüglich der Bewegungsmodalitäten zu differenzieren. Es handelte sich nicht um einen absoluten Ausschluss in dem Sinne, dass Rhus toxicodendron in diesem Fall grundsätzlich nicht hätte angezeigt sein können.

...

Literaturhinweise:
Conan Doyle, A.: Die Abenteuer des Sherlock Holmes. Düsseldorf: Albatros Verlag, 2003.
Hahnemann, S.:, Die chronischen Krankheiten, 1. Nachdruck der 2.Auflage von 1835. Heidelberg: Haug-Verlag, 1999.
Hahnemann, S.:, Organon der Heilkunst, Textkritische Ausgabe der 6. Auflage, Neuausgabe. Heidelberg: Haug-Verlag, 1999.
Hering, C.:, Leitsymptome unserer Materia medica, 1. Auflage der deutschen Übersetzung. Aachen: Verlag Renée von Schlick, 1992.
Jus, M. S.: Sport und Homöopathie, 2. Auflage. Zug: Homöosana, 1998.
Keller von, G. / Künzli, J.: Kents Repertorium, 1. Nachdruck der 14. überarbeiteten Auflage. Heidelberg: Haug-Verlag, 1999.
Nash, E. B.: Leitsymptome in der homöopathischen Theorie, 18. Auflage. Heidelberg: Haug, 1995.
Die Repertorisationen wurden erstellt mit ComRep-Computersoftware (Franz Simbürger, 84174 Eching)

Anschrift des Verfassers:
Henning Marx
Lessingstr. 26
69115 Heidelberg
Tel.: 06221 – 433 24 88
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