Blätter für klassische Homöopathie

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Klassische Homöopathie

Akute Krankheitszustände aus Sicht eines Sherlock Holmes:

Leitsymptome bei der klassisch-homöopathischen Behandlung

Von Henning Marx

Fragestellung

Anhand mehrerer Fallbeispiele aus der Praxis soll untersucht werden, welche Bedeutung der Kenntnis um die sogenannten Leitsymptome der Materia medica homöopathica bei der Auswahl eines homöopathisch eingesetzten Arzneimittels zukommt.

An verschiedenen Stellen ergaben sich weitere spannende Fragen – unabhängig von dem gewählten Thema. Von einer ausführlichen Beantwortung dieser Fragen musste leider abgesehen werden, da dies zum einen den Rahmen des Artikels gesprengt und zum anderen dessen Prägnanz vermindert hätte.

Schlüsselwörter
Leitsymptome, grippaler Infekt, Cephalgie, Lumbago, Ischialgie, Tendinitis, Sherlock Holmes.


Was hat Sherlock Holmes mit einem Therapeuten der klassischen Homöopathie gemeinsam? Beide sind auf der Suche nach Hinweisen, die ihnen eine eindeutige Bewertung einer Fragestellung erlauben, zu deren Lösung sie herangezogen werden. Sherlock Holmes löst dabei Kriminalfälle, der Homöopath Krankheitsfälle. Beides kann gleichermaßen spannend sein und der Dank des Klienten bzw. Patienten bei erfolgreicher Arbeit ist beiden gewiss.

Sowohl Sherlock Holmes als auch der Homöopath sind auf der Suche nach Hinweisen, die einen sicheren Rückschluss auf den Täter bzw. die Individualität des Krankseins erlauben. Aus der Sicht von Sherlock Holmes sind neben dem Motiv des Täters solche Umstände für ihn außergewöhnlich, die die Anzahl der Täter reduzieren und am Ende der Untersuchung einen Täter zweifelsfrei als den Schuldigen herausstellen. Für die sichere homöopathische Arzneiwahl in akuten Fällen trifft dies neben der Causa vor allem für die sonderlichen Symptome zu.

Hahnemann fordert im § 1531, dass fast ausschließlich die auffallenden, sonderlichen, ungewöhnlichen und eigenheitlichen (charakteristischen) Zeichen und Symptome zur Arzneimittelwahl heranzuziehen sind. Ob Beschwerden als auffallend, sonderlich oder eigenheitlich zu bewerten sind, soll an dieser Stelle nicht weiter differenziert werden2. In die im folgenden verwendete Kategorie „sonderlich” fallen alle Begleit- und Nebensymptome (§ 95), gesicherte Modalitäten (§ 133), insbesondere wenn sie unerwartet sind, auffallende Zeitbestimmungen und Periodizitäten, eigentümliche Empfindungen sowie auffallende Lokalisationen und Erstreckungen.

Noch wertvoller für die Arzneiwahl kann ein sonderliches Symptom unter Umständen werden, wenn es als Leitsymptom einer potenzierten Arznei bekannt ist. Leitsymptome sind solche Beschwerden, die sich bei einer Arznei besonders intensiv gezeigt haben. Nicht selten sind diese Symptome nur in wenigen oder zumindest nicht übermäßig vielen anderen Symptomenreihen vertreten. Die Arznei hat in der Regel über lange Zeit bewiesen, dass sie ein Beschwerdebild mit dieser speziellen Ausprägung geheilt hat.

Ein Patient leidet beispielsweise an einer Erkältung mit weinerlichem Gemüt, Frösteln, abendlichem Fieber, Durstlosigkeit bei trockenem Mund, gelbem Nasensekret, besonders morgens und schmerzenden Zähnen. Hier liegen so viele Leitsymptome vor, die in ihrer Kombination nur Pulsatilla zulassen, dass der Verordner ohne weiteres Nachdenken sich seiner Wahl sicher sein kann. Es darf allerdings nicht vergessen werden, dass es sich bei einer so eindeutigen Symptomenkonstellation eher um eine Ausnahme handelt. Die Verordnung eines Heilmittels auf nur ein sonderliches Symptom hin, das diese Arznei in seiner Symptomenreihe als Leitsymptom aufweist, führt dagegen häufig nicht zur erwarteten Heilung.

Sherlock Holmes hat bei seiner Arbeit immer ausgezeichnet, dass er stets unbefangen und losgelöst von bereits bestehenden Ansichten seiner Kollegen neue Fälle unter die Lupe genommen hat. Diese waren meist über solche ins Auge springenden Details gestolpert (wie unter Umständen der voreilige Leitsymptomenverordner), haben sich auf eine einzige Spur festgelegt und sind so in eine Sackgasse geraten, die ihnen die Lösung eines Falles verstellte. Holmes dagegen setzte seine gesamten Sinne ein, um alle Umstände erfassen zu können, die ihm die Lösung ermöglichten. Er beobachtete auch noch so kleine und unbedeutende Spuren, die von anderen übersehen oder für unwichtig gehalten worden waren und ließ sich von der vorgefertigten Meinung der anderen Spürnasen nicht beeinflussen.
Auf diese Weise hat sich Holmes ein vollständiges Bild eines Falles gemacht, woraus sich für ihn neue Spuren ergaben, er genauer kombinieren konnte und so zu seinen erstaunlichen Lösungen gelangte. Wer im Organon § 83 liest, stellt fest, dass diese Fähigkeiten dieselben sind, die der Homöopath benötigt, um einen Krankheitsfall aufzunehmen und zu lösen. Hier sind es die Unbefangenheit gegenüber dem Kranken mit seinen Beschwerden sowie gegenüber den Arzneimitteln, das Einsetzen der gesunden Sinne und das aufmerksame Beobachten sowie das exakte Aufzeichnen des Gefundenen ohne eigene Interpretationen. Nur dann ist sicher gewährleistet, dass der Therapeut nicht, wie Holmes Kollegen, in die Irre geht, indem er zu einseitig denkt. Das alleinige Verordnen nach Leitsymptomen führt nur in ca. 10% der Fälle zu einer richtigen Arzneiwahl. Die Gesamtumstände werden außer Acht gelassen und andere Arzneimittel aus dem Auswahlprozess zu früh herausgenommen. Es ist auch selten so, dass nur die eine Arznei ein sonderliches Symptom repräsentiert, die es als Leitsymptom in seiner Symptomenreihe aufweist.

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Die Repertorisationen wurden erstellt mit ComRep-Computersoftware (Franz Simbürger, 84174 Eching).

Anschrift des Verfassers:
Henning Marx
Lessingstr. 26
69115 Heidelberg
Tel.: 06221 – 433 24 88
www.praxis-marx.com



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