Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur und Traditionelle Chinesische Medizin e.V.

Placebo-Aberglaube-Magie

Andreas Noll, München

Die vor einigen Monaten abgeschlossenen Studien zur Wirksamkeit bzw. Unwirksamkeit der Akupunktur haben viele Fragen aufgeworfen, einige Antworten gegeben, aber vor allem viel vernebelnden Staub aufgewirbelt. Die Folge ist ja nun, dass die Akupunktur bei bestimmten Schmerzerkrankungen den Segen der Krankenkassen erhält und unter bestimmten Voraussetzungen erstattet wird. Unstrittig ist auch, dass nach wie vor schulmedizinische Behandlungsmethoden bei diesen Erkrankungen weiterhin erstattet werden, obgleich sie sich als weitaus weniger wirksam als die Akupunktur erwiesen haben. Unstrittig ebenfalls, von allen Seiten wird dies bestätigt, dass der leider unverzichtbare „Faktor Mensch“ immer wieder bei der Erzielung eines eindeutigen Nachweises dazwischengefunkt hat.

„Alles Placebo“ – dieses scheint sich ja nun bestätigt zu haben, wenn die Schein-Akupunktur doch auch fast so gut gewirkt hat wie die Verum-Akupunktur. Und das hört man ja nun gar nicht gerne – und so werden Haut-Reflexzonen, Muskelleitbahnen, Luo-Gefäße u.a. herbeizitiert, um das schlechte Image des „Placebos“ abzuwenden. Droht doch den Befürwortern einer Toleranz gegenüber nicht-sanktionierten Wirksamkeitsnachweisen der akademische Scheiterhaufen. Und wenn wir uns nun schon in diesem heimeligen Umfeld befinden, so lassen Sie uns doch einmal betrachten, wie anderswo und in anderen Zeiten mit „Schein-Wirkungen“ umgegangen wird. Die moderne Naturwissenschaft verlassen wir hierbei und wenden uns anderen Systemen zu, bei denen es um Einwirkungsmöglichkeiten auf das Heil des Menschen geht.

Das Heil, die Gesundheit und das Wohlbefinden sind auf verschiedensten Ebenen anzustreben und zu erreichen:

• Auf der Ebene des menschlichen Strebens nach Erlösung von den Leiden dieser Welt, sei es nun im Jenseits oder im Diesseits. Hier wäre dann auch die Schnittstelle zur Heilkunde mit ihren z.t. religiös-„magischen“ Praktiken.1

• Auf der menschlich-sozialen Ebene geht es um das Fortbestehen des Menschen, auch über seine eigene körperliche Existenz hinaus. Gerade der Konfuzianismus hat diesem Aspekt einen hohen Stellenwert beigemessen, indem er die wechselseitige Verpflichtung von Vorfahren und Nachkommen mit den lebenden Menschen als gesellschaftliche Handlungsmaxime konstituierte.

• Die dritte Ebene, auf der Glück zu erreichen ist, ist die stofflich-reale Ebene: der materielle Reichtum.

Auf jeder dieser drei Ebenen handelt es sich nicht um sinnlich fassbare Zustände, sondern um Gefühle. Diese sind jenseits der Wahrnehmungsfähigkeit durch unsere Sinne2, Gesundheit und Wohlbefinden definiert jeder Mensch aus sich selber heraus. Nur ansatzweise sind sie – siehe die Studien – durch Fragen/Antworten eindeutig fassbar und übertragbar. Das Nicht-Sinnliche3 ist es jedoch, was, jenseits des Erfahrbaren, Heil und Unheil des Menschen bewirkt. Schon immer war der Mensch auf der Suche nach Erklärungsmodellen, nach Lösungen, nach einer immanenten Systematik, die es dann zumindest dem Geist ermöglicht, das Unfassbare fassbar zu machen. Dazu gehören eben die essentiellen Fragen nach Tod und Leben, Gesundheit und Krankheit. Dieses individuell erfahrene oder intellektuell nachvollziehbare Sinngefüge wird als Kontingenz bezeichnet. Unzählige Techniken zur Kontingenzbewältigung hat die Menschheit seit ihrem Anbeginn entwickelt. Da gibt es akzeptierte Techniken, die in Gesellschaft, Religion und Heilkunde ihren festen Platz eingenommen haben. Die christliche Kirche bietet ein umfassendes Repertoire hierfür ebenso wie das jeweilige Staatsverständnis und die jeweils aktuelle „Schulmedizin“. Die nicht-akzeptierten Techniken werden dann ausgegrenzt und unnachgiebig verfolgt. Stichworte aus diesen Ausgrenzungsversuchen sind „Magie“ und „Zauberei“ versus etablierter Religion und eben auch „Placebo“ versus „Evidence based Medicine“. Ebenso gibt es aber auch Beispiele für die Integration der verschiedenen Techniken, die sich jedoch im Widerspruch zu unserem dominierenden hiesigen Ausschließlichkeitsdenken befinden.

Die Bemühungen, die Unabwägbarkeiten und Unsicherheiten des menschlichen Lebens außerhalb dieser Kontingenz zu erfassen, bewegen sich notwendigerweise innerhalb desjenigen Kulturkreises, der Denken und Erleben geprägt und definiert hat.

Heilkundliche Konzepte im weitesten Sinne als Konstrukte zur Erlangung des Heils/Gesundheit/Wohlbefinden und der Erlösung in dieser oder einer jenseitigen Welt ergeben sich aus dem jeweiligen soziokulturellen Umfeld. Sie unterliegen dann auch als häufig konkurrierende Systeme den Ausgrenzungsversuchen wechselseitiger Diffamierung. Dieses ist anzunehmen ebenso für – im hiesigen Umfeld – als „magische“ bezeichnete Techniken wie auch für naturwissenschaftliche Paradigmen, die ihre Relativität im Wechsel gesellschaftlicher Tendenzen4 beweisen.

Die Differenzierungsversuche für kontingenzbewältigende Praktiken aus Religionswissenschaft, Ethnologie, Soziologie und Psychologie entstammen alle mehr oder weniger aus dem christlich-abendländischen Kulturkreis. J.G.Frazer differenzierte als Ethnologe intellektualistisch nach der Frage des personalen oder apersonalen Wirkens und schuf die evolutionistische Trias der Wirkkräftigkeit Magie-Religion-Heilkunde. Der Soziologe Max Weber betrachtete das System dann funktionalistisch – soziologisch nach der Frage, ob die Praktiken Teil eines erlaubten sozialen Kultes sind oder nicht. Auch das Vorgehen S. Freuds spiegelt in seiner Reduktion auf das Erleben des Individuums und die Pathologisierung spezifisch christlich-abendländische Denkweisen wider.

Im Folgenden versuche ich die Thematik aus einem anderen Kulturkreis heraus zu betrachten. Im asiatischen Raum, hier besonders in China, haben andere fundamentale Einflüsse der Gesellschaft die Einstellung über Möglichkeiten der Kontingenzbewältigung geprägt. Insbesondere entfällt hier die schon im frühen Christentum konstruierte Stigmatisierung außerkirchlicher „magischer“ Praktiken. Wie später aufgezeigt wird, gab es dennoch ähnliche, wenngleich nicht so wirksame Ausgrenzungsversuche religiöser und staatlicher Kräfte.

1. Begriffsklärung – “Magie”, Zauberer, Schamanen, Hokuspokus

2. Das Instrumentarium

3. Religionen und der Staat in China

4. Ausgrenzung und Integration durch den Staat

5. Aktuelle Beispiele

6. Zusammenfassung

In den Religionen Chinas (wie Schamanismus, Volksreligionen, Buddhismus, Daoismus und Konfuzianismus) wurden im abendländischen Kulturkreis als „magisch“ bezeichnete Praktiken auf verschiedene Weise integriert und assimiliert. Während gerade im Buddhismus, mehr aber noch im genuin chinesischen Daoismus der Götter-, Geister- und Zauberglaube seine institutionelle Heimat fand, wurde durch den Konfuzianismus die angestrebte Harmonie von Himmel und Erde sowie der zeitlich-räumlichen Dimensionen durch Ritualwesen und Ahnenkult auf der gesellschaftlich-politischen Ebene hergestellt.

Ausgrenzungen von Techniken wurden zugunsten eines ausgeprägten Synkretismus vermieden, wenngleich es gerade in der Neuzeit – unter dem Einfluss westlich-säkularen Denkens? – zu einschneidenden Reduktionen religiösen Lebens kam. Das Nebeneinander verschiedener Religionssysteme und der exzessive Polytheismus wirkten dabei naturgemäß einem Ausschließlichkeitsdenken entgegen.

Das hat auch zur Folge, dass die chinesische Medizin, unbelastet von diesem genuin christlich-abendländischen Denken vielfältige Konzepte zur Heilung benutzt. Gerade diese Vielfältigkeit und Offenheit ist es jedoch, die im eklatanten Widerspruch zur derzeitigen Wissenschaftsauffassung im Westen steht. Es bleibt zu konstatieren: Eine „Placebowirkung“ ist eine Wirkung...

Anmerklungen
1
Magie und Heilkunde- in diesem Zusammenhang sei verwiesen auf die „Magie“ der Zahlen (Lebenszeit) und Werte (Labor) und der Machbarkeit (IVF, Gentechnologie) – sie alle wirken nahezu mit „Zauberkraft“ auf unsere Patienten und bewirken Gutes wie Schlechtes...
2 – visuell (mit dem Sehsinn)
– akustisch (mit dem Hörsinn)
– kinästhetisch (mit der Tiefensensibilität) / haptisch (mit dem Tastsinn)
– olfaktorisch (mit dem Geruchssinn)
– gustatorisch (mit dem Geschmackssinn)
3 Sinnlichkeit ist hier die Empfänglichkeit für die verschiedenen Sinnesempfindungen, besonders aber für solche Empfindungen, welche sich an Sinnesempfindungen anschließen, also die Auffassung der uns umgebenden Erscheinungswelt
4 Am Rande erwähnt seien hier die Relevanz bestimmter Erkrankungen für bestimmte Volksgruppen, wie Herz-Kreislauf (D)-, Leber (F)- oder Darm (GB)- Erkrankungen, aber auch Umweltphobien oder Ernährungsmythen.
5 Eine Assoziation mit dem griechischen Symbolon ist hier nahe liegend und auch angesichts möglicher Kontakte zwischen Griechenland/Kleinasien und China zumindest im Hellenismus nicht so abwegig.
6 Wobei man sich in dieser Vorstellung nicht von christlichen Gedanken verführen lassen sollte. Die chinesische Vorstellung von „Himmel“ ist z.T. als das „Oben“, aber auch als die Umwelt, der Kosmos und das Dao zu betrachten.
7 Reiter: 208 ff.
8 Zhang Daoling war der Begründer der 5-Scheffel-Reis-Bewegung (Wudoumi) oder auch der Lehre der Himmelmeister. Diese Bewegung gilt als der Ursprung des institutionalisierten Daoismus, in dem Elemente der Geister-/Dämonenreligion, der Fangshi-Zauberer, Huanglao-Schule und des philosophischen Daoismus einflossen. Zhang Daoling wurde zudem der Sage nach in den Bergen ein Buch mit Formeln zur Vertreibung von Dämonen höchstpersönlich von Laozi überreicht worden sein.

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Literatur:
Bauer,Wolfgang, 2001, Geschichte der chinesischen Philosophie, München: Beck
Kippenberg, H.G, Luchesi,B. (Hg.), 1978, Magie-die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens, Frankfurt/M.: Suhrkamp
Legeza, Laszlo, 1975, Tao magic-The secret language of diagrams & calligraphy, London: Thames and Hudson
Milanoswski, Thomas, 2005, Die magischen Körper-Geistübungen Chinas und deren Verbindung zum Schamanismus, Uelzen; ML-Verlag
Petzold, Leander (Hg.), 1978, Magie und Religion, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Reiter, Florian C., 2002, Religionen in China, München: Beck
Zinser, Hartmut, 1997, Der Markt der Religionen, München: Fink

Anschrift des Verfassers:
Andreas A. Noll
Elisenstr. 5
80335 München
E-Mail: info@praxis-noll.de
www.praxis-noll.de



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