Das zweite Herz

Von Margret Rupprecht

Lebererkrankungen als Ausdruck mangelnder innerer Klarheit und ihre Behandlung mit pflanzlich-homöopathischen Urtinkturen

Regenerationsfähigkeit ist eine kostbare Eigenschaft. Viele Organe oder Gewebe können sich nach einem schweren Trauma nicht mehr erholen, behalten eine Funktionsbeeinträchtigung zurück oder müssen sogar, sofern man auf sie verzichten kann, entfernt werden. Die Leber bildet in dieser Hinsicht eine gewisse Ausnahme. Auch wenn sie durch Toxine, Infektionen oder Traumata geschwächt wurde, kann sie sich häufig voll und ganz regenerieren. Nicht zuletzt deshalb gilt das Organ in der Symbolik als Sitz der Lebenskraft, des impulsiven Gefühls, aber auch der Liebe. Während die vom Herzen ausgehende Liebe als warmes, volles, überströmendes Gefühl empfunden wird, ist die von der Leber, der “rechten” Seite ausgehende Liebe von anderer Art: Ihre Qualität wächst aus dem Wissen um das, was gut ist und was nicht. Lebererkrankungen im finalen Stadium werden häufig von einem hohen Grad an geistiger Verwirrung begleitet. Eine gesunde Leberfunktion ist dagegen meist verbunden mit geistiger Klarheit. Aus dieser Klarheit heraus sieht der Mensch, was recht ist, und handelt danach.

In der Naturheilkunde besitzt das Organ Leber eine ähnlich hohe Bedeutung wie das Herz. Während man Erkrankungen, die sich vornehmlich auf der linken Körperseite abspielen, häufig in einen Zusammenhang mit der Herz- und Gefühlsseite des Menschen bringt, deuten rechtsseitige Erkrankungen auf Erkrankungen oder Funktionsschwächen der Leber. Herz und Leber sind mehr als nur zwei Organe. Sie verkörpern und symbolisieren die menschliche Polarität im Spannungsfeld zwischen Gefühl und Verstand.

In der griechischen Mythologie gibt es eine Geschichte, die das Organ Leber mit seinen zentralen Themen – Erneuerungsfähigkeit und Klarheit des Geistes – in besonderer Weise in den Mittelpunkt stellt: Die Sage von Prometheus.

Der Titan Prometheus versucht die Gewaltherrschaft des Zeus nicht, wie die übrigen Titanen, mit physischer Kraft zu stürzen, sondern kämpft mit geistigen Waffen. Anlässlich eines Opfers versucht er Zeus zu schwächen, indem er das gute Fleisch und die Eingeweide in einem Rindermagen versteckt, und dem Göttervater nur die Knochen, in glänzende Fetthaut gehüllt, vorsetzt. Die Sage erklärt, warum es in der Antike üblich war, bei Opfern nur die Knochen und unbedeutenden Teile der Tiere zu verbrennen, das Fleisch aber für den menschlichen Verzehr zurückzubehalten. Schon hier findet eine Unterscheidung zwischen brauchbar (für den Menschen) und unbrauchbar statt. Das Leberthema klingt an.

Zeus entscheidet sich für die Knochen, entwendet den Menschen zur Strafe jedoch das Feuer. Prometheus, von jeher Freund der Menschen, raubt es dem Göttervater und bringt es zurück auf die Erde. Zur Strafe wird er an einen Felsen geschmiedet, wo ihm ein Adler die Leber zerhackt, die während der Nacht jedoch immer wieder nachwächst. Will Zeus versuchen, dem Titanen genau jenes Organ zu zerstören, das Prometheus Klarheit über sein – für den Menschen – nützliches Handeln gab? Nach langer Qual wird der Titan durch einen Pfeilschuss des Herakles von seinem Peiniger, dem Adler, erlöst. Als Wohltäter der Menschen bringt er ihnen alle Künste, geistige und handwerkliche Fertigkeiten, kurzum die ganze Kultur. Im Athen des klassischen Altertums verehrten zahlreiche Zünfte den Titanen als ihren Schutzpatron. Prometheus, vom griechischen prometheomai – umsichtig und klug sein, vorbedenken, Vorsorge treffen abgeleitet, ist derjenige Titan, der vorausdenkt, während sein Bruder Epimetheus “der nachträglich Erkennende” bleibt, der erst aus Erfahrung klug wird. Der Name ist Programm. Der Titan Prometheus verfügt über dieselbe Fähigkeit wie das Organ Leber. Beide wissen im Voraus, was nützlich ist oder schädlich: Prometheus für den Menschen und die Leber für Stoffwechsel und Psyche.

Heilpflanzen zur Verbesserung der physischen und psychischen Unterscheidungsfähigkeit

Carduus marianus – Abgrenzung zwischen Ich und Welt

Taraxacum officinale – das Abträgliche ausscheiden

Cynara scolymus – Unterscheidung von Zuviel und Zuwenig

Cichorium intybus – die Durchlässigkeit wiederfinden

Literatur
Roger Kalbermatten: Wesen und Signatur der Heilpflanzen. Die Gestalt als Schlüssel zur Heilkraft der Pflanzen. AT Verlag, Aarau (Schweiz) 2002
Roger und Hildegard Kalbermatten: Pflanzliche Urtinkturen. Wesen und Anwendung. AT Verlag, Aarau 2005
Max Wichtl (Hrsg.): Teedrogen und Phytopharmaka. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 2002
Kluge: Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache. Walter der Gruyter, Berlin 2002
Langenscheidts Großwörterbuch Griechisch – Deutsch. Berlin und München 1979
Marianne Beuchert: Symbolik der Pflanzen. Insel Verlag, Frankfurt 2004
Ursel Bühring: Praxis-Lehrbuch der modernen Heilpflanzenkunde. Grundlagen – Anwendung – Therapie. Sonntag Verlag, Stuttgart 2005
Hildebert Wagner, Markus Wiesenauer: Phytotherapie. Phytopharmaka und pflanzliche Homöopathica. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. Stuttgart 2003
Udo Becker: Lexikon der Symbole. Herder spektrum. Freiburg, Basel, Wien 2005
Herbert Hunger: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Rowohlt, Hamburg 1974
Ruediger Dahlke: Krankheit als Symbol. Bertelsmann Verlag, München 2002
Gerhard Madaus: Lehrbuch der Biologischen Heilmittel. Band 4, 5 und 11. Mediamed Verlag, Ravensburg 1990
Olaf Rippe u. a.: Paracelsusmedizin. AT Verlag, Aarau 2001

Anschrift der Verfasserin:
Margret Rupprecht
Heilpraktikerin
Hohensalzaer Str. 6a
81929 München

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