Ethnomedizin

von Christian Rätsch

In den 1970er Jahren verbreitete sich der Begriff „Ethnomedizin“ in der akademischen Welt. Die Ethnomedizin gehört zu anderen Ethno-Wissenschaften, wie Ethnobotanik oder Ethnopharmakologie, und zählt als Unterdisziplin zur Ethnologie (früher „Völkerkunde“) – nicht, wie oft fälschlich angenommen – zur akademischen Medizin. Allesamt gehören sie zur recht neuen „kognitiven Anthropologie“. Genauso wie die Ethnologie zur Anthropologie, also der Kunde vom Menschen gehört, fiel die Ethnomedizin in diese neue Herangehensweise oder Annäherung an das Verstehen von fremdkulturellen Phänomenen. Die kognitive Anthropologie beschäftigt sich mit der Perspektive oder der Welterkenntnis des zu untersuchenden Volkes (Ethnie). Man wollte aus der Beschreibung anderer Völker (Ethnographie) eine Anthropologie des Verstehens entwickeln. Nicht mehr von außen beschreiben, sondern von innen heraus verstehen (vgl. Rätsch 1995).

Was ist Ethnomedizin?

Die Ethnomedizin ist nicht die Jagd nach Heilkräutern bei den so genannten „Primitiven“, auch nicht der medizinische Report eines westlichen Arztes über eine Drittweltsituation. Die Ethnomedizin ist eine wissenschaftliche Methode, dem Heilwissen Fremder zu begegnen. Nochmal: Die Ethnomedizin ist eine Subdivision der Ethnologie, nicht der Medizin. Westlich ausgebildete Mediziner sind die denkbar ungeeignetsten Personen um fremdkulturelles Verhalten und Denken zu verstehen. Der Blick der Mediziner richtete sich auf Symptome, Syndrome, Heilmittel usw., die bei anderen Völkern benutzt werden. Die Ethnomedizin hingegen versucht, die Perspektive der anderen Völker ernst zunehmen und die Medizin des zu untersuchenden Volkes als relevant und bedeutsam anzuerkennen. Deshalb muss der Anthropologe, der als Ethnomediziner arbeiten möchte, die Medizin des anderen Volkes aus dessen Perspektive erlernen. Ich kann aus eigener Erfahrung – immerhin dreißig Jahre ethnomedizinische Forschung habe ich auf dem Buckel – bestätigen, dass das verdammt schwierig ist! Man muss von seinem eigenen belief system („Überzeugungssystem“) Abstand nehmen und sich auf etwas völlig Fremdes einlassen.

Ethnomedizin und Schamanismus

Schamanismus und Zauberei

„Ergänzung statt Ausschluss“

Die Erforschung des Schamanismus ist ein zentrales Thema in der Ethnomedizin und somit ein zentrales Thema der kognitiven Anthropologie. Je mehr wir verstehen, desto mehr können wir lernen. Es genügt, tolerant und aufgeschlossen zu sein, um neues Terrain zu betreten.
Die Ethnomedizin sollte ein Weg sein, den Zusammenschluss des heilenden Wissens aus allen Zeiten und Kulturen zu einer holistischen Medizin für den Menschen der Zukunft schaffen zu können.

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Literatur
Castaneda, Carlos
1973 Die Lehren des Don Juan, Frankfurt/M.: Fischer.
1975 Eine andere Wirklichkeit: Neue Gespräche mit Don Juan, Frankfurt/M.: Fischer.
Fikes, Jay Courney
1993 Carlos Castaneda, Academic Opportunism and the Psychedelic Sixties, Victoria, B.C.: Millenia Press.
Rätsch, Christian
1995 Das Erlernen von Zaubersprüchen: Ein Beitrag zur Ethnomedizin von Naha’, Berlin: Express Edition.
Schultes, Richard Evans und Siri von Reis
1995 Ethnobotany: Evolution of a Discipline, Portland, Oregon: Dioscorodes Press.

Verfasser: www.christian-raetsch.de



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