NACHLESE ZUM SCHWERPUNKT 07/2006 (HERZ/KREISLAUF)

Philosophisches zur Herzangstneurose

von Rebekka Reinhard

Da die Menschen unfähig waren,
Tod, Elend,Unwissenheit zu überwinden,
sind sie, um glücklich zu werden,
übereingekommen, nicht daran zu denken.
(Pascal)

In den Essais von Michel de Montaigne findet sich ein rätselhaftes Zitat des stoischen Philosophen Seneca:

Suchen wir die Ursache unserer Krankheit nicht außerhalb von uns, denn sie steckt in uns, sie ist in unserem Inneren eingepflanzt.“
(Montaigne 1998)

Welche Krankheit mag hier gemeint sein?

Charakteristisch für die Herzangstneurose ist eine akute „Todesangst“ in Form einer „Herzstillstandsangst“ (Bräutigam 1992). (In der „International Classification of Diseases“ ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation wird die Herzangstneurose der Panikstörung untergeordnet; Möller 2001.) Die Symptome sind das anfallsartige Gefühl, eine Herzattacke zu erleiden, Herzrasen, Herzstolpern, ein Druck- und Schweregefühl über dem Herzen, Atemnot, Benommenheit, Schweißausbrüche, Schwindel. Es scheint, als sei das Herz aus seiner Verborgenheit plötzlich hervorgetreten:

Das Herz wird nur im Zustand des Abnormen und Krankhaften erlebt. Aber auch dann, wenn es erfahren wird, hat es eine eigentümliche Unbestimmtheit: Es ist zwar das eigene Herz, aber dennoch relativ unbestimmt und nicht verfügbar, wie z. B. eine Extremität. Diese Unüberschaubarkeit enthält jedoch schon den Keim der Angst. (Bräutigam 1992)

Dem Betroffenen scheint der Herzschlag, dieser stille und stete Rhythmus des Lebens, seiner Selbstverständlichkeit plötzlich beraubt. Sein Leben scheint ihm in seinem innersten Kern bedroht. Sucht er nun, das Schlimmste befürchtend, Hilfe bei einem Arzt, muss er sich sagen lassen, dass es sich in seinem Fall nur um eine psychosomatische, funktionelle, psychovegetative Störung handele – dass seine Krankheit eine ganz andere ist als die, für die er sie hielt. Er muss erfahren, „dass er krank in einem umfassenderen Sinne ist, dass die Herzbeschwerden zwar ebenso real sind wie seine Angst, aber als Folge, nicht als Ursache seiner Krankheit“ (ebd.). Als Ursache gilt aus psychodynamischer Sicht ein ungelöster Autonomie-Abhängigkeitskonflikt. Der Widerstreit zwischen Trennungsangst und Verselbstständigungsaggression ist nicht aufgelöst worden, sondern äußert sich auf seelisch-körperlicher Ebene als Herzangst. Die Symptome der Herzangstneurose drücken die Problematik der individuell verschiedenen Entwicklungs- und Beziehungsgeschichte eines Menschen aus (Kast 1996). Typische Erkrankungssituationen sind dementsprechend unvorhergesehenes Verlassenwerden, Wegzug, Krankheit einer wichtigen Bezugsperson oder (Herz-)Todesfälle in der unmittelbaren oder weiteren Umgebung – Situationen, in denen der Betroffene sein Alleinsein als äußerst bedrohlich erlebt.

Wie ist die medizinische Erklärung, dass sich bei der Herzangstneurose ein ‚echtes’ Gefühl mit ‚gemachten’ körperlichen Symptomen verbindet, philosophisch zu interpretieren? Vom philosophischen Standpunkt aus stellt die Herzangstneurose eine unklare Vermischung von Krankem und Gesundem dar, die es zu erhellen gilt. Sprechen der fehlende kardiologische Befund und die manifeste Angst zusammen genommen nun eher für Krankheit oder eher für Gesundheit? Wo genau verläuft in einem Menschenherz die Trennungslinie zwischen seelischer Krankheit und körperlicher Gesundheit? Welches Heilmittel ist hier angebracht? Wenden wir uns einigen Gedanken zu, die für die philosophische Interpretation der Herzangstneurose zentral sind.

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Literatur bei der Verfasserin:
Anschrift der Verfasserin:
Dr. phil. Rebekka Reinhard
Praxis für Philosofische Beratung
Westermühlstr. 13
80469 München
E-Mail: info@praxis-reinhard.de



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