MEDIZINGESCHICHTE

Der merowingische Krieger von Kelheim und die Medizin der Vorzeit

Von Friedbert Ficker

Einer verlässlichen Beurteilung des Standes der Forschung in dem Bereich der vor- und frühgeschichtlichen Medizin sind bei aller Erweiterung des Faktenwissens Grenzen gesetzt. Damit erklärt es sich auch, dass trotz des Appells von Henry Sigerist, des bedeutenden Pioniers der älteren Medizingeschichte, die Arbeit auf diesem Gebiet fortzusetzen, bis heute ein Nachholbedarf besteht, wobei sicher auch älteres Material neu zu bearbeiten wäre. Das wichtigste Quellenmaterial stellen die fossilen Knochenfunde dar, doch sehen wir bei diesen – wie bei anderen Quellen der frühen Medizin auch – “nicht die Tatsachen und Ereignisse selbst”, um den verdienten Wegbereiter der Geschichte der Paläomedizin noch einmal zu zitieren.

Ein Beispiel dafür liefert unter den Beständen des auf dem Gebiete der heimischen Vor- und Frühgeschichte reichhaltigen und interessanten Heimatmuseums in Kelheim/Donau das männliche Skelett, das zu der originalen Rekonstruktion eines vollständigen Grabes mit den zugehörigen Grabbeigaben zählt, das am 14. September 1914 in einem Reihengräberfeld auf der Altmühlflur östlich von Kelheim gefunden wurde. Nach Länge und Stärke des Knochenbaues zu urteilen, handelte es sich um eine mächtige, hünenhafte Gestalt, die dort bestattet wurde. Von den Grabbeigaben lenken zunächst das schräg über den Unterleib und über die Beine gelegte Schwert, der Schildbuckel sowie fünf Pfeilspitzen und eine Speerspitze die Blicke auf sich. Zwischen den Füßen des Bestatteten war ein mit Ornamenten verziertes Gefäß abgestellt, das zur Aufbewahrung der Wegzehrung für den Toten bestimmt war.

Das Langschwert weist darauf hin, das es sieh bei dem Bestatteten um einen vornehmen Krieger aus merowingischer Zeit handelt, der offensichtlich den Folgen einer Verwundung erlegen ist. Für die Bestätigung der angenommenen Todesursache spricht eine bei oberflächlicher Betrachtung leicht zu übersehende Verletzung am unteren Ende des linken Schienbeinknochens von vier bis fünf Zentimeter Länge. Mit der angenommenen Ursache wird freilich nichts über die Folgen und damit über den Verlauf des zum Tod führenden Geschehens ausgesagt und es schließen sich daran verschiedene Fragen an: War es lediglich das Ausmaß der Wunde mit der aufgetretenen und möglicherweise nicht zu stillenden Blutung, führte eine Infektion mit Entzündung und septischem Prozess zum letalen Ausgang oder war eine derartige Verwundung entsprechend dem damaligen Stand der Medizin ohnehin mit so geringen Heil- und Überlebenschancen verbunden.
Die Fragen werden verständlich bei der auf den ersten Blick durchaus nicht so gravierend wirkenden Verletzung beispielsweise im Vergleich zu dem diagnostischen Ergebnis an dem Fund aus einem 1955 nördlich von Heidelberg bei Dossenheim ausgegrabenen merowingerzeitlichen Reihengräberfeld.

Der Schädel eines mit seinem Langschwert bestatteten Mannes im Alter von etwa 30 Jahren lässt den spontanen Tod im Kampf nach Gewalteinwirkung durch einen mit Vehemenz geführten Schwerthieb erkennen. Dabei wurde mit der Zertrümmerung des linken Stirn- und Schläfenbeins sowie des darunterliegenden Stirnhirns das linke Auge herausgeschlagen. Ebenso wurden der Oberkiefer und das Jochbein zerstört samt der Luxation des Unterkiefers nach links. Es liegt bei dem Umfang und der Schwere der Verletzung auf der Hand, dass Überlebenschancen nicht zu erwarten waren.

Andererseits sind ebenso Fälle von schweren und komplizierten Verletzungen bekannt, deren Heilung und das damit verbundene Überleben der Betroffenen auf eine erfolgreiche Behandlung schließen lässt. So wurde in einem Massengrab bei Kalbsrieth, westlich von Halle/S. ein steinzeitliches Skelett gefunden, das eine verheilte tiefe Schädelverletzung aufwies. Ebenso wird von einem frühgermanischen Schädel aus der Mannheimer Sammlung berichtet, deren schwere Verletzung, die Spaltung des linken Scheitelbeines und der Stirn bis auf eine im Stirnbein offen gebliebene Lücke zugeheilt war.
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Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Friedbert Ficker
August-Bebel-Str. 1a
08058 Zwickau



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