“Umweltallergie”- Eigenständige Krankheit oder Ausdruck und Symptom einer Somatisierungsstörung?

von Hellmuth Schuckall

Seit etwa Anfang der 70-iger Jahre – bis heute in wachsender Zahl – sehen wir Patienten, die offenbar an allergischen Symptomen der Haut, des Gastrointestinaltrakts, der Atmung, an allergiebedingte Einschränkungen des Allgemeinbefindens oder auch an Schmerzen leiden, die ursächlich auf toxische Umwelteinflüsse, wie Schwermetalle im Wasser, Gift- und Schadstoffe in der Nahrung, gentechnisch veränderte Nahrungsbestandteile, schädigende oder reizende Ausdünstungen von Lacken, Lösungsmitteln oder auch auf Elektrosmog etc. zurückgeführt werden.

In vielen Fällen sind tatsächlich toxische Agenzien im Ambiente des Erkrankten nachzuweisen. Nicht selten sind potentiell allergisierende Stimuli aber weder im direkten Zusammenhang noch in übertragener Weise auszumachen, so dass sich die Ursache für das Geschehen zunächst nicht klären lässt. Dennoch wird ein komplexes allergisches Geschehen vermutetet, weil das Leiden und die geschilderten bzw. sichtbaren Symptome dies scheinbar zwingend nahe legen. Die (z.T. recht aufwendigen) Therapien erweisen sich in einem Teil dieser Fälle als durchaus hilfreich. Ein erklecklicher Anteil der Patienten jedoch reagiert auf keine der Bemühungen, – im Gegenteil, man bekommt den Eindruck, dass sich die Symptome erweitern und von Jahr zu Jahr neue hinzukommen, so dass diese Patienten geradezu als “Sammler” aller möglichen Symptombilder und Erscheinungen auftauchen.

Die Medizin hat für diese Symptomträger eindrucksvolle Etikette gefunden, wie beispielsweise “multiple chemische Sensivität (MCS)” oder auch “ideopathische umweltbezogene Unverträglichkeit”. Zu dieser Auflistung therapeutisch – wie diagnostischer Hilflosigkeit zählen auch das Chronic-Fatigue-Syndrom oder die Fibromyalgie-Syndrom-Erkrankung. Diesen allen ist u.a. gemeinsam, dass häufig eine umweltinduzierte, allergieartige topische oder (häufiger) eine Systemreaktion (Allergieparameter sind häufig leicht bis stärker erhöht) vermutet wird, deren Quelle in der Regel aber nicht auszumachen ist.

Bei näherer Sicht lässt sich bei diesen Patienten gehäuft, und statistisch durchaus relevant, ein spezifisches und damit richtungweisendes “Psychogramm” auffinden. Bei konsequenter wie genauerer Auseinandersetzung und Exploration dieser Menschen zeigt ein hoher Prozentsatz der Betroffenen mehr oder minder ausgeprägt Symptome einer (häufig verleugneten, abgewehrten) Depression, Anzeichen einer Angststörung, z.T. recht komplexe Befindlichkeitsstörungen, wechselnde vegetative Dysregulationen, wandernde Schmerzzustände und/oder auch vielfältige hypochondrische Befürchtungen etc. Die auftretenden Ängste lassen sich nicht nur reaktiv mit dem Unheimlichen und Bedrohlichen dieser Symptomatik erklären, welche den bedauernswerten Leidenden offenbar schicksalhaft wie progredient heimsucht. Bei psychologisch fokussierter Betrachtungsweise vermitteln jedoch die Intensität und “Haltbarkeit” der Symptome und Schilderungen wie auch die u.U. auffällig affektive Verschlossenheit und scheinbar mangelhafte emotionale Schwingungsfähigkeit dieser Patienten wie auch ihre mitunter geradezu kämpferische Ablehnung potentieller psycho-somatischer Zusammenhänge (diagnostisch) relativ eindeutige Hinweise. Gerade diese Weigerung seelische Kausalzusammenhänge – wertfrei – in die diagnostischen Überlegungen mit einzubeziehen, verschleppt einen adäquaten Therapiebeginn oft um Jahrzehnte, was einer (therapieresistenten) Chronifizierung den Weg bereitet. Nicht selten ergibt sich daraus auch ein sekundärer Krankheitsgewinn z.B. über legitime vorzeitige Berentung. Dieses Beharren auf einer ausschließlichen Somatogenese der Symptomatik wird umso mehr gestützt, als im Vordergrund der Symptome eben typische allergische Erscheinungen – “Reizsymptome” stehen, wie Schleimreizungen, Augenbrennen, Reizhusten stehen, aber auch Hauterscheinungen in Verbindung mit Unpässlichkeitssyndrom, Völlegefühl oder Kopfschmerzen und Schwäche, auch Schwindel und starker Muskelschmerz etc. im Zusammenhang mit z.B. Nahrungsaufnahmen oder Aufenthalt in bestimmten Räumen etc.

Grundsätzlich meine ich sagen zu können, dass immer dann, wenn ein Patient über Symptome klagt, die in irgendeiner Weise mit Umweltsituationen oder Noxen in Verbindung stehen sollen, und sich auch bei intensiver Suche keine organischen Ursachen oder biomedizinische Zusammenhänge auffinden lassen, muss stets auch an eine sogenannte Somatisierungstörung gedacht werden. Wobei unbedingt festzuhalten ist, dass das Nichtauffinden von somatischen Ursachen eine organische Krankheit keineswegs ausschließt, so dass eine parallele Suche nach einem organischen Agens bzw. Korrelat sicherlich weiter notwendig bleibt. Es wäre sicher ein Fehler, sich allzu schnell und bereitwillig auf die “Psychoschiene” zu begeben.

Symptomatische und diagnostische Kriterien für eine Somatisierungsstörung

Therapieüberlegungen

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Literatur:
Dilling, F., etal. (Hrg) Internationale Klassifizierung psychischer Störungen, Kap. V(F), Hans Huber (2000)
DIMDI, ICD-10 GM systematisches Verzeichnis, Vers. 2004 (2003)
Greenpeace, Einkaufsnetz ,Internet (2006)
Matheß, H., 5 Seminare: Komplexe Dissoziative Störungen, Abtl. Psychosomatik und Psychotherapie, BKH Haar bei München, (2005,2006)
Kapfhammer, H.P.,Gündel, H., Psychotherapie der Somatisierungsstörungen, Thieme, (2001)
Rudolf, G., Henning, P., Somatoforme Störungen, Schattauer( 1997),
Schuckall, H. persönl. Aufzeichnungen, Neurobiologie-Kogress in München (2001)
Schuckall, H. Seminar/ Fallvignette, Vortrag f. d. Arbeitskreis psycholog. Schmerztherapie, KH re. d. Isar (2005)
Uexküll, T. v., Psychosomatische Medizin, Urban & Schwarzenberg, (1985)

Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Hellmuth Schuckall
FA. f. Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und prakt. Arzt
Psychotherapie, Psychoanalyse, Naturheilverfahren
Nördl. Auffahrtsallee 62
80638 München
Internet: www.doc-schuckall.de
E-Mail: dr.schuckall@doc-schuckall.de



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