ETHNOMEDIZIN

Jahresfeste als Heilrituale: das Santiago-Fest auf Taquile

von Walter Andritzky

Während einer Woche Ende Juli zeigen die Bewohner der Insel Taquile (Peru) im Titikakasee jedes Jahr den Besuchern ein einzigartiges Panorama ihrer andinen Volkstanztraditionen. An den darauffolgenden Tagen, am ersten und zweiten August, begehen sie dann ein Fest, das am Beginn des neuen Zyklus des Agrarjahres steht und zur Inkazeit dem Blitz- und Wettergott Illapa gewidmet war.

Die Indios setzten Illapa, dessen Statue die Inka bei Kriegszügen mit sich führten, mit dem Kriegsgott Santiago der Spanier gleich: Bei der Belagerung von Cusco hatten sie nämlich beobachtet, wie ein Blitz in die Festung Sacsayhuaman schlug, während die Spanier noch zu Santiago um Beistand baten.
Die Insel ist in sechs Gebiete (suyos) gegliedert, wobei auf den Terrassen eines jeden suyos vorwiegend eine Feldfrucht angebaut wird: Weizen, Gerste, oca (eine süßlich schmeckende Knollenart), Kartoffeln, Mais, avas (eine Bohnensorte) und huasara (ein Tierfutter).
Die Anbauflächen der Bauern sind meist über mehrere suyos verstreut, damit im Falle von Hagel oder Frost nicht die ganze Ernte zerstört wird.
Wer nur ein kleines Grundstück besitzt, kann dort alle Sorten Feldfrüchte zusammen anbauen. Jedes Jahr werden nur drei Sorten kultiviert, während die übrigen drei suyos brachliegen.
An unserem Standard gemessen, leben die Taquiler am Rande des Existenzminimums. Das Wasser der wenigen Quellen muß täglich mühsam in Tongefäßen zu den einfachen Lehmhütten heraufgetragen werden.
Während der Wintermonate mit nächtlichen Temperaturen bis unter –10°C leiden fast alle Bewohner an chronischen Erkältungen, da es auf der Insel keinerlei Brennholz oder sonstige Heizmaterialien gibt. Wie mein Gastgeber erzählte, mußte seine Familie öfter das Vieh in die Hütte holen, um nicht zu erfrieren. Auf Taquile verfügt man weder über einen Arzt noch über elektrischen Strom.

Agrarsystem und Jahresfeste

Auf Taquile hat sich ein Zyklus von Festen erhalten, der es reizvoll erscheinen läßt, ihre Rolle für das Zusammenleben der Inselbevölkerung zu studieren. Da die meisten Bewohner in den mittleren vier suyos leben, bieten die Feste zunächst Anlaß zu einer Gemeinsamkeit, die sich z.B. mit der sonntäglichen Messe nicht vergleichen läßt.
Das rituell-festliche Geschehen verläuft nämlich in einer Kette symbolischer Handlungen, deren Vollzug die Gruppenidentität der Taquiler ohne feindliche Abgrenzung nach außen entwickelt und stärkt. Eine ihrer beeindruckendsten Eigenschaften ist eine dem Fremden gegenüber gelassen-freundliche Haltung: Er betritt die Insel wie eine Wohnstatt und wird von seinem Gastgeber in eine Hütte geleitet, die viele Familien neben ihrem Haus errichtet haben. Auch diese Geste zeigt wie der selbstverständliche Gruß auf allen Wegen eine aufgeschlossene Haltung gegenüber dem Fremden.

Die Friedlichkeit des Taquilers wurde auch während des Santiago-Festes offenkundig. Obwohl in diesen Tagen fast ununterbrochen Alkohol getrunken wird, ließen sich keinerlei Streitigkeiten beobachten, wie sie sonst bei diesen Gelegenheiten in Peru üblich sind. Vielmehr herrscht eine sentimentale Stimmung vor, wenn während der Pausen vom stundenlangen Tanzen die Männer allenthalben Vertraulichkeiten austauschen und die Frauen am Rand sitzen und sich mit ihren Kindern beschäftigen. Die Atmosphäre des Friedvollen könnte man geradezu als eine der Haupteigenschaften der Taquiler bezeichnen, denen Eigentums- und Gewaltdelikte so gut wie unbekannt sind.

Der Wettertanz

Vorzeichen und Beschwörung

Kunst, Symbol und Natur

Ritual, Fest und Heilung

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Anschrift des Verfassers:
Dr. phil. Walter Andritzky
Kopernikusstr. 55
40225 Düsseldorf



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