Blätter für klassische Homöopathie

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Klassische Homöopathie

Praktische Beiträge zur therapeutischen Kenntnis von Kalium carbonicum

Von Gerd Aronowski

Fälle aus der alten Literatur

Unter dieser Überschrift fiel mir vor einiger Zeit eine Artikelserie aus der Allgemeinen Homöopathischen Zeitung von 1871 auf, die sogleich mein Interesse weckte.

Dr. J. Schelling aus Bernek, stellte dort 30 Fällen vor, welche alle durch Kalium carbonicum geheilt wurden. Einige der Fälle möchte ich gerne an dieser Stelle besprechen, weil ich sie für geeignet halte uns das Arzneimittel Kalium carbonicum auf eine etwas tiefere Weise näher zu bringen.

Man merkt sogleich, es sind die Fälle eines erfahrenen Praktikers, welcher zur treffsicheren Mittelwahl imstande ist, mit Symptomen auszukommen, die weit davon entfernt sind schillernde Leitsymptome einer Arznei zu sein.

Das Fehlen von sogenannten Leitsymptomen begegnet uns in vielen der uns in unseren Praxen anvertrauten Fälle. Und an Stelle dieser, müssen wir dann mit Symptomen auskommen, die an sich viel gewöhnlicher sind und erst in der Kombination mit anderen Erscheinungen mittelweisend werden. Dazu braucht es eine profundere Mittelkenntnis, die zu erlangen wir uns immer wieder bemühen sollten.

Die Fälle sind teilweise in leicht gekürzter Form dargestellt. Die Angabe der Quelle in der Fußnote, soll es dem interessierten Leser jedoch möglich machen, den jeweils vollständigen Text im Original nachzulesen.

Fall eines oesophagialen Halsschmerzes 1

“Ursula S., blond, schwächlicher Constitution. Im Anfang des Jahrs 1869 wurde sie matt, blass, mager, düster, ernst, floh die geselligen Kreise, und arbeitete nicht mehr mit dem früheren Gelingen, war auch zu Hause still und ohne Lebenslust; dabei nahmen auch Appetit und Schlaf ab, und ihre Gesichtsfarbe ward schmutziggrau. Anfangs April klagte sie über Kopf- und Halsschmerzen, was sie mit Thee und anderen Hausmitteln beseitigt glaubte; doch wurde ihr nie mehr recht wohl. Der Halsschmerz kam wieder, besonders Trockenheit und Gefühl von etwas Hartem beim Schlingen im Halse, der Schmerz erstreckte sich nun tiefer im Schlund bis in den Magen hinab und war brennend-stechend, aber nur beim Schlingen fühlbar. Endlich concentrirte sich der Schmerz mitten in der Brust, wo auf einer kleinen Stelle das Hinabschlucken der Speisen ein Hindernis fand und anstatt hinabzugleiten, dort stecken blieben, bis sie erst nach einer Weile lebhafter Schmerzen durchzudringen vermochten. Gleich darauf entstand schwülstige Hitze und Wallung des Blutes nach dem Kopf. Würgen im Halse, mit Übelkeit. Mit der Zunahme dieses Übels suchte sie Hilfe.

Am 25. April war der Zustand folgender: Sehr übles, spitziges, graugelbes Aussehen, trübe Augen Früh mit Schleim verklebt. Nasengeschwulst, harte, rothe, von der Spitze bis zur Wurzel, an der Spitze roth aufgetriebene, geschwürige, mit gelben und grauen Borken besetzte Nasenflügel, mit brennend schründendem Schmerz; die Scheidewand roth entzündet, schmerzhaft; trockene Lippen, trockener Mund und Hals, weissgrau belegte Zunge. Beim Schlingen von flüssiger, besonders aber fester Speise drückend spannender Schmerz an einer Stelle mitten in der Brust, wie Gefühl von einem harten Körper, mit Hindernis der Speisefortrückung, gleichzeitig brennend stechender Schmerz in dem Rücken, drei der Stelle entsprechende Rückenwirbel sind außerdem zu jeder Tageszeit schmerzhaft, und die Kranke zuckt lebhaft auf, wenn die Dornfortsätze nur leicht gedrückt oder mit der Hand berührt werden, sie darf auch Nachts nicht auf dem Rücken liegen. Seit acht Tagen hat sie nichts Festes mehr genießen können. Ein heftiger habitueller Kopfschmerz, drückend, wie von einem Steine, in Stirn und Scheitel plagt sie alle Morgen, mit Schwindel. Schlaf unruhig, erst nach Mitternacht. Sie erhielt Kalium carbonicum C200.

27. April. Der Schmerz im Schlingen ist weniger stark, wenn sie Dünnflüssiges zu sich nimmt. Im Übrigen hat auch das schwülstige Hitzeaufwallen und Würgen im Halse etwas abgenommen.

30. April. Merkliche Abnahme der Schlingbeschwerden, dünner Brei geht ohne Schmerz durch; die Rückenwirbel nur noch beim Drucke schmerzhaft. Schlaf ruhiger. Aussehen heiterer.

4. Mai. In Allem freier; kann wieder Fleisch und andere feste Speisen ohne Hindernis genießen; der Rückenschmerz ist unbedeutend, nur noch bei starkem Druck vorhanden. Gesicht heller, Blick lebhafter, arbeitet leichter. Die Nase welche einige Tage weniger geschwollen war, schmerzt nicht mehr und zeigt größere Borken. Kalium carbonicum C200. – Nach vier Tagen Nase wieder rein, und auch im Übrigen wohl, wie seit Monaten nicht mehr.”
Repertorisation 1 siehe Naturheilpraxis 11/2005

Unser Mittel kommt also auch aus dem Blickwinkel der Computerrepertorisation in die engere Wahl. Dies ist erfreulich. Doch oft habe ich beim Versuch Fälle aus der alten Literatur mittels Computerrepertorisation nachzuvollziehen auch schon erlebt, dass das mit Erfolg verordnete Mittel bei der Auswertung nicht in vorderster Reihe stand. Da die Fälle mit oft überraschendem Heilerfolg gelöst wurden, brauchen wir uns wenig Gedanken über die Richtigkeit der Verordnung zu machen. Es zeigt vielmehr, dass eine profunde Kenntnis der Arzneien über die Repertorisation weit hinausweist. Natürlich ist die Repertorisation hilfreich und äußerst sinnvoll. Wir vergessen nur allzu leicht, dass mit ihr der Prozess der Mittelfindung längst nicht abgeschlossen ist.

Bei Hahnemann finden wir neben vielen zum Fall passenden Symptomen unter Kalium carbonicum auch:

(472) Gefühl eines Knäutels im Halse (dies kommt dem Symptom 5 nahe)
(466) Während des Schlingens Drücken im Rückgrate
(1413) Sehr empfindlich am ganzen Körper, wo sie sich anfühlte oder bewegte, tat es ihr weh. (Dieses Symptom passt zur Schmerzhaftigkeit der im Fall genannten Wirbelkörper der Brustwirbelsäule)
(467) Schwieriges Schlingen, die Speisen rutschen in der Speiseröhre sehr langsam hinab

Dies waren mit Sicherheit Hinweise, welche die Aufmerksamkeit Schellings auf Kalium carbonicum lenkten.

Betrachten wir die Repertorisation so fällt ein weiteres, dem Kalium carbonicum verwandtes Mittel auf. Kalium bichromium! Dieses Mittel war zum damaligen Zeitpunkt in der homöopathischen Materia medica schon bekannt. Es ist ein hervorragendes Mittel bei allen Ulcerationen der Schleimhäute, so zum Beispiel der Nase. Und bei Beschwerden, welche von einer kleinen Stelle ausgehen und vom Patienten genau beschrieben und lokalisiert werden können. Die im Fall beschriebene Engstelle im Hals ließ mich ein wenig an diese Arznei denken. Doch einen Fall heilt man bekanntermaßen nicht zweimal. Genau betrachtet reicht es dies einmal zu tun, was Schelling prompt vollbrachte, nämlich mit Kalium carbonicum.

Fieberhafter Infekt 2

Obstruktive Atemwegserkrankung 3

Ein Fall von Magen- und Oberbauchbeschwerden 5

Ein Fall von Herzdruck und Magenbeschwerden 7

Hiermit möchte ich meine Ausführungen schließen, wenn auch über dieses großartige und tiefwirkende antipsorische Heilmittel noch viel mehr zu sagen wäre.

...

Anmerkungen
1 Allgemeine Homöopathische Zeitung; 1871; Bd. 82; Nr. 8, S. 62
2 Allgemeine Homöopathische Zeitung; 1871; Bd. 82; Nr. 9, S. 69
3 Allgemeine Homöopathische Zeitung; 1871; Bd. 82; Nr. 10, S. 76
4 Nash, E.B.: Leitsymptome in der Homöopathischen Therapie; Haug Verlag; Heidelberg; 1985
5 Allgemeine Homöopathische Zeitung; 1871; Bd. 82; Nr. 11, S.86
6 Phatak, S.R.: Homöopathische Arzneimittellehre; Burgdorf Verlag; Göttingen
7 Allgemeine Homöopathische Zeitung; 1871; Bd. 82; Nr. 18, S.150

Literatur:
– Complete Repertory und Kentsches Repertorium , ComRep-Computersoftware Franz Simbürger, Eching
– Allgemeine Homöopathische Zeitung Bd. 82; Jahrgang 1871; Nr. 7- 26
– Hahnemann, S.: Die Chronischen Krankheiten Bd. 4; Haug Verlag, Heidelberg 1979
– Jahr, G.H.G: Ausführlicher Symptomenkodes; Bernd von der Lieth; Verlag für homöopathische Literatur; Hamburg;
– Keller von, Georg: Gesammelte Aufsätze und Vorträge zur Homöopathie; Hahnemann Institut; Greifenberg; 2002
– Phatak, S.R.: Homöopathische Arzneimittellehre; Burgdorf Verlag; Göttingen

Anschrift des Verfassers:
Gerd Aronowski
Uhlandstr. 8
78464 Konstanz



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