FACHFORUM

Die Wunderarznei des Paracelsus

Von Olaf Rippe

Mythen und Sagen berichten von der wahren Wirklichkeit hinter dem Schein des Sichtbaren. Immer geht es um Erkenntnis und Moral, dem Kampf zwischen Gut und Böse und um den Einfluss unsichtbarer Mächte. Sie dienen aber auch häufig der Überlieferung von altem heilkundlichen Wissen, so auch die Geschichte von der Wunderarznei des Meisters Paracelsus1

Zu jener Zeit, als der Wunderdoktor Paracelsus in Innsbruck wohnte, wanderte er gerne in den umliegenden Wäldern. Eines Sonntagmorgens ging er den “Gangsteig” entlang, wo er unvermutet seinen Namen rufen hörte. Der Doktor merkte erst nach langem Suchen, dass die Stimme aus einer nahen Tanne kam, in deren Stamm sich ein Loch befand, das jemand mit einem Holzzapfen gut verschlossen hatte. Dieser Jemand hatte zudem noch drei Kreuze eingeritzt.

“Wer ruft mich da?” fragte Paracelsus.
“Ich”, erscholl es zur Antwort. “Erlöse mich aus dieser Tanne, in der ich eingeschlossen bin!”
“Wer ist dieses Ich?” erkundigte sich der Wunderdoktor.
“Man nennt mich den Bösen”, gab die Stimme zur Antwort, “aber du wirst sehen, dass ich zu Unrecht so heiße, wenn du mich befreist.”
“Wie kann ich das tun?” fragte Paracelsus.
“Schau dort rechts an der alten Tanne empor, da wirst du ein Zäpfchen mit drei Kreuzen bemerken, das ich von innen nicht herausstoßen kann. Ein Geisterbeschwörer hat mich da hineingezwängt.”
“Und was soll mein Lohn sein, wenn ich dich befreie?” fragte Paracelsus.
“Was verlangst du denn?” fragte die geisterhafte Stimme.
“Gib mir” – herrschte der Doktor – “erstens eine Arznei, durch welche alle Krankheiten zu heilen, zweitens eine Tinktur, durch welche alles in Gold zu verwandeln ist, und drittens ...”
“Halt!” rief die Stimme, “drei Dinge sind mir verhasst und lähmen meine Kunst, aber die zwei begehrten kann ich dir geben.”
Paracelsus begnügte sich daher mit Arznei und Tinktur, zog den Zapfen aus dem Loch und sogleich kroch eine schwarze Spinne auf das Moos herab, die jedoch sofort verschwand, als sie den Boden berührte. Im selben Augenblick entstieg der Erde ein hagerer Mann mit glühenden, unheimlichen Augen, die bezeugten, dass er sicher kein Heiliger sei. Er war aber sehr höflich und sprach in wohlgesetzten Worten seinen Dank für die Befreiung aus. Sodann brach er eine Haselstaude ab, schlug auf den nahen Felsen, der sich krachend spaltete und ging durch die Kluft hinein. Schon nach kurzer Zeit kam er mit zwei durchsichtigen Gefäßen wieder heraus, die er dem Doktor überreichte.
“Das Gelbe hier”, sagte er, “ist die Goldtinktur, das Weiße die Arznei.” Hierauf schloss sich der Spalt im Felsen und das Geschäft war getan. “Nun will ich Rache üben an dem lumpigen Geisterbanner in Innsbruck”, sprach der Teufel und wandte sich zum Gehen. Doch Paracelsus machte sich so seine Gedanken, schließlich wollte er den Schwarzkünstler retten, war dieser doch sein Kollege und nebenbei wollte er dem rachsüchtigen Teufel einen Streich spielen.

Erläuterungen zum Text

Die Zahl Drei

Verbohren und Bannung von Krankheiten

Die Tanne und der Wintergott

Unheilvolles Getier und Fabelwesen

Die Hasel (Corylus avellana)

Der verborgene Schatz

...

1 Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861; www.sagen.at.

Anmerkung: Die angegebenen Zitatstellen zu Paracelsus beziehen sich auf die vierbändige Aschner-Ausgabe.

Literatur:
– Bächtold-Stäubli, Hanns: 1927 Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 10 Bd.. Berlin, New York: Walter de Gruyter (Nachdruck 1987).
– Boericke, William: 1972 Homöopathische Mittel und ihre Wirkungen. Leer: Verlag Grundlagen und Praxis.
– Lussi, Kurt: 2002 Im Reich der Geister und tanzenden Hexen – Jenseitsglauben, Dämonen und Zauberglaube. Aarau: AT-Verlag.
– Marzell, Heinrich: 1922 Die heimische Pflanzenwelt im Volksbrauch und Volksglauben. Leipzig: Verlag von Quelle & Meyer.
– Mebs, Dietrich: 2000 Tiergifte. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.
– Paracelsus: 1993 Sämtliche Werke. Anger: Anger – Verlag Eick (Nachdruck der Aschner-Ausgabe von 1930).
– Rippe, Olaf / Madejsky, Margret / Amann, Max / Ochsner, Patricia / Rätsch, Christian: 2001 Paracelsusmedizin – Altes Wissen in der Heilkunst von heute. Aarau: AT-Verlag.
– Sill-Fuchs, Martha: 1983 Wiederkehr der Kelten. München: Dianus-Trikont Buchverlag GmbH.
– Storl, Wolf-Dieter: 2000 Pflanzen der Kelten. Aarau AT-Verlag.
– Storl, Wolf-Dieter: 2004 Naturrituale – Mit schamanischen Ritualen zu den eigenen Wurzeln finden. Aarau: AT-Verlag.
– Stübler, Martin / Krug, Erich: 1987 Leesers Lehrbuch der Homöopathie (5 Bände). Heidelberg: Haug-Verlag.

Anschrift des Verfassers:
Olaf Rippe
Stuntzstr. 77
81677 München
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