ETHNOMEDIZIN

Wallfahrt und Heilung: die Prümer Echternachwallfahrt

Ein Beitrag zur Ethnomedizin

von Walter Andritzky

„Gegrüßet seist du Maria ...“

– 18 Vorbeter, die in Abständen von etwa 30 Metern in der Mitte einer sich durch die sommerliche Eifellandschaft windenden Menschenschlange schreiten, reißen nach einem wohldurchdachten System ihre Pilgerstäbe in die Höhe. Drei Schritte nachdem der erste „Brudermeister“ an der Spitze des etwa 600 Meter langen Pilgerzuges das Zeichen gab, fallen die Pilger gleichzeitig in den seit Stunden gleichen Rosenkranzzyklus ein. Ein Abschnitt dauert in meinem Schrittrhythmus etwa 40 Schritte, dann folgen 20 Schritte Schweigen. Vogelgezwitscher, Bienengesumm, der Blick schweift zwischendurch über Wiesen und Felder. Ein Stück weiter brechen sich die Sonnenstrahlen in den Kronen eines dichten Laubwaldes am Straßenrand, während auf der linken Fahrbahnseite einige Autos die Szenerie des Wallfahrtszuges passieren. Dann wieder Schweigen, während dessen nur die dumpfen Geräusche der auf den Asphalt setzenden Schritte zu hören sind. Seit einigen Stunden macht sich die Muskulatur der Unterschenkel bemerkbar. An der Spitze des Zuges wehen mehrere Fahnen, die vordersten mit der Aufschrift „Wachet“ und „Betet“ – Worte Christi aus dem 7. Kapitel der Mönchsregel des Heiligen Columbanus, der noch vor der Zeit des Heiligen Willibrord lebte. Das Grab dieses großen „Missionars der Friesen“ im luxemburgischen Grenzstädtchen Echternach ist das Ziel der Pilger, die nun seit einem Tag von ihrem Ausgangspunkt Prüm unterwegs sind. Wären nicht Autos, Asphalt, Turnschuhe und Stromleitungen, könnte man sich für einen Moment auf einem mittelalterlichen Pilgerzug wähnen.

Naturerleben und Meditation

Warum opfern so viele Menschen ihre Pfingsttage, laufen fast 70 Kilometer zu Fuß, beten stundenlang und bewegen sich dann noch an Taschentüchern gefaßt, nach der eintönigen Melodie dröhnender Blechmusik mit einem eigenartigen, an schottische Volkstänze erinnernden Schritt über einen Kilometer durch Echternach, tanzen durch die Kirche, steigen in die Krypta hinab, werfen dort Münzen vor den Sarkophag des Heiligen? Um diesem Phänomen mit den üblichen Mitteln der Soziologie näherzukommen, hätte es wohl gereicht, die Pilger einfach nach den Motiven ihres Tuns zu befragen. Im Rahmen eines Projektes an der heilpädagogischen Fakultät der Universität Köln über psychologisch wirksame Dimensionen volksmedizinischer Bräuche hatte meine Pilgerschaft aber einen weiterreichenden Zweck, nämlich über den Weg teilnehmender Beobachtung Vorstellungen zu entwickeln, die es gestatten, das Wallfahren als ein transkulturell verbreitetes Verhaltensmuster der Heil(ung)s-Suche besser zu verstehen. Die an fragmentierten, künstlichen Situationen oder an laboratoriumsähnlichen Bedingungen entwickelten Theorien der Psychotherapieschulen und der Medizin versagen nämlich kläglich, wenn es darum geht, äußerst vielschichtige Vorgänge traditioneller volksmedizinischer Bräuche in ihrer möglichen heilerischen Wirkungsebene zu erfassen. Das Wallfahrtswesen gehört zu diesem Bereich, da es seit alters eine Handlung der Heils-Suche darstellt, wenn sie sich auch nicht immer auf den ersten Blick als solche zu erkennen gibt. Bevor sich in der modernen Medizin und Psychotherapie das herausbildete, was der Medizinanthropologe Georg Foster als Effizienzkult bezeichnete, der sich in der Konzentration auf immer eingegrenztere Symptome, immer spezialisiertere Fachärzte und Kliniken äußert, leisteten zahlreiche Bräuche einer gleichsam in den Alltag integrierten medizinischen Volkskultur einen erheblichen Beitrag zu einer psychosomatisch orientierten Krankheitsprophylaxe. Ihre Effektivität ist mit den Methoden der an isolierten Parametern orientierten Schulwissenschaft kaum meßbar. Sie basierte auf Tradition und war in ihrem Funktionieren ebenso wenig erklärbar, wie es Heilrituale in traditionellen Gesellschaften heute sind. Um den Vorgängen näherzukommen, war es daher nötig, das ganze Wahrnehmungsfeld des Pilgers bei einer Wallfahrt in die Überlegungen einzubeziehen. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Bestimmungsmerkmale des Wallfahrtswesens.

Die Entwicklung des Wallfahrtswesens

Wallfahrt als Metapher

Wallfahrt als Initiation

Zur „Axis Mundi“

Von Prüm nach Echternach

Die „Springheiligen“

Wallfahrt als symbolischer Heilprozeß

...

Anschrift des Verfassers:
Dr. Walter Andritzky
Psychologische Praxis
Kopernikusstr. 55
40225 Düsseldorf



weiter ... (für Abonnenten der Naturheilpraxis)


Zum Inhaltsverzeichnis 06/2005

Naturheilpraxis 06/2005