Blätter für klassische Homöopathie

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Klassische Homöopathie

Zur Bedeutung der Erst- und Nachwirkungssymptome der Arzneimittel in der Homöopathie

Von Roger Rissel

Zusammenfassung

Zur Verwendbarkeit der Erstwirkungs- und Nachwirkungssymptome der Arzneimittel für die Wahl eines homöopathischen Arzneimittels werden in der Homöopathie verschiedene Auffassungen vertreten. Eine Analyse der unterschiedlichen Standpunkte, die Gegenüberstellung und Reflexion schafft mehr Klarheit bei diesem schwierigen Sachverhalt.

Schlüsselwörter
Erstwirkung, Nachwirkung, Lebenskraft, Hahnemann, Bönninghausen, Hering, Mezger


Einleitung

Hahnemann berichtet in seinen Schriften über seine Heilerfolge bei Verwendung der Primär- oder Erstwirkungen der Arzneimittel, wie sie aus den Arzneimittelprüfungen oder der Toxikologie bekannt sind. Bönninghausen folgt Hahnemann und es wird gesagt, dass er die Verwendbarkeit der Sekundär- oder Nachwirkungen für unbrauchbar hält.

Hering zeigt uns Heilerfolge auf, die auf der Verwendung der Nachwirkungssymptome beruhen und legt darauf sogar einen Schwerpunkt.
Bei so unterschiedlichen Auffassungen bedeutender Homöopathen stellt sich die Frage, was nun richtig ist und wie in dieser Hinsicht sicher ein homöopathisches Arzneimittel gewählt werden soll.

Bei den Recherchen zu dieser Frage wurden hauptsächlich Schriften von Hahnemann, Hering und Mezger zugrunde gelegt, die alle große Erfahrung in der Durchführung von Arzneimittelprüfungen hatten.

In Anlehnung an den Artikel: “Welchen Stellenwert hat die Lebenskraft in der Homöopathie Hahnemanns?” 1) wird auch beispielhaft gezeigt, dass schwierige Sachverhalte, die in Verflechtung mit der Lebenskraft dargestellt werden, sicherer zu erfassen sind, wenn sie in rein phänomenologischer Weise betrachtet werden.

Was schreibt Hahnemann zu Erst- und Nachwirkungen der Arzneien?

Beim Studium des Vorwortes zur Arzneimittellehre von Julius Mezger (10) heißt es in der Abhandlung “Über meine Erfahrungen mit Arzneimittelprüfungen” unter der Überschrift “Erstwirkung und Nachwirkung, Wechselwirkung”: “>Hahnemann vertritt die Ansicht, dass als Arzneisymptome zu homöopathischem Gebrauch nur diejenigen Symptome zu verwerten seien, welche als Erstwirkung zum Vorschein kommen (§ 137 der 6. Aufl. des Organon). Diese allein hält er für den betreffenden Prüfstoff als spezifisch, während er die Nachwirkungen als Gegenwirkung des Lebensprinzips (zur Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes) betrachtet.” 2)

Der Paragraph 137 ORG 6 lautet:
“Je mäßiger, bis zu einem gewissen Grade, die Gaben einer zu solchen Versuchen bestimmten Arznei sind, – vorausgesetzt, dass man die Beobachtung durch die Wahl einer Wahrheit liebenden, in jeder Rücksicht gemäßigten, feinfühligen Person, welche die gespannteste Aufmerksamkeit auf sich richtet, zu erleichtern sich bestrebt – desto deutlicher kommen die Erstwirkungen und bloß diese, als die wissenswürdigsten, hervor und keine Nachwirkungen oder Gegenwirkungen des Lebensprinzips. Bei übermäßig großen Gaben hingegen, kommen nicht allein mehrere Nachwirkungen unter den Symptomen mit vor, sondern die Erstwirkungen treten auch in so verwirrter Eile und mit solcher Heftigkeit auf, dass sich nichts genau beobachten lässt; die Gefahr derselben nicht einmal zu erwähnen, die demjenigen, welcher Achtung gegen die Menschheit hat, und auch den Geringsten im Volke für seinen Bruder schätzt, nicht gleichgültig seyn kann.” 3)

Überraschenderweise ist festzustellen, dass Hahnemann die Erstwirkungen als die wissenswürdigsten bezeichnet. Hahnemann schreibt nichts davon, dass die Nachwirkungen nicht für die Arzneiwahl heranzuziehen seien. Außerdem wird auf den Einfluss der Gabengröße hingewiesen, dass bei sehr mäßigen Gaben die Erstwirkungen deutlicher hervortreten und keine Nachwirkungen oder Gegenwirkungen auftreten.

Um diese Unschärfe zu klären, soll nun in den Werken Hahnemanns weitergesucht werden nach Aussagen bezüglich der Verwendbarkeit von Erst- und Nachwirkungssymptomen bei der homöopathischen Arzneimittelwahl.

Organon der Heilkunst (5)
In den Paragraphen 63-65, 112-115, 130, 131 und dem oben zitierten §137 bringt Hahnemann seine Vorstellungen zu der Einwirkung der Arzneien bei Vergiftungen und der Arzneimittelprüfung zum Ausdruck. Er unterscheidet eine Erstwirkung, die er als Wirkung der Arznei bezeichnet, bei welcher der Organismus passiv ist und eine Nachwirkung des Organismus, vor allem bei zu starken Arzneigaben. Diese Nachwirkung (Gegenwirkung) stellt sich häufig als gegenteiliges Symptom oder, wo es ein Gegenteil nicht gibt, im Verschwinden des Erstwirkungssymptoms dar (Heilwirkung). Als weitere Besonderheit werden dann die Wechselwirkungen genannt, als gegenteilige Symptome, die zur Erstwirkung der Arznei gehören. Für Hahnemann erklären sich diese Phänomene durch Einwirkung der Arznei auf die Lebenskraft und Gegenwirkung der Lebenskraft auf (zu starke) Effekte der Arzneiwirkung.

Der § 112 schränkt das Phänomen der Nachwirkungen ein auf das Auftreten bei großen Arzneigaben! Bei mäßigen Gaben ist selten oder fast nie das Mindeste zu spüren, bei kleinen Gaben aber gar nicht. “Bloß die narcotischen Arzneien scheinen hierin eine Ausnahme zu machen” 4) heißt es in § 113.

Aussagen bezüglich der Verwendbarkeit von Erst- und Nachwirkungen für die Arzneimittel macht Hahnemann in diesen Paragraphen nicht. Außer dem Hinweis auf die wissenswertesten Erstwirkungen (§ 137) schreibt Hahnemann im Organon nichts in Bezug auf die Nachwirkungssymptome.
Die im Organon für diese Betrachtung besonders wichtigen Paragraphen 137 und 112 haben in allen 6 Organonausgaben (9) eine identische Aussage mit ähnlichem Wortlaut.
Im Folgenden werden die Schriften Hahnemanns, welche vor dem Erscheinen von Organon 1 verfasst wurden, betrachtet.

Versuch über ein neues Prinzip zur Auffindung der Heilkräfte der Arzneisubstanzen (1796) (14)

“III. Man passe auf eine chronische Krankheit ein ihr in seinen direkten anfänglichen Hauptwirkung sehr gleichendes Heilmittel an, die indirekte Nachwirkung ist dann zuweilen gerade die Körperstimmung, die man zu erzielen sucht, zuweilen aber (vorzüglich, wenn man in der Gabe gefehlt hat), entsteht in der Nachwirkung eine Verstimmung, auf einige Stunden, selten Tage. Eine etwas starke Gabe Bilsenkrautsaft hinterlässt leicht zur Nachwirkung eine große Furchtsamkeit; eine Verstimmung, die zuweilen erst nach mehreren Stunden vergeht. Ist sie lästig und man muss ihre Dauer verkürzen, so hilft eine kleine Gabe Mohnsaft spezifisch und fast augenblicklich; die Furcht ist weg. Mohnsaft wirkt hier freilich nur entgegengesetzt und palliativ; aber es bedarf auch nur eines palliativen, und temporellen Mittels, um ein transitorisches Uebel auf immer zu unterdrücken, wie auch bei akuten Krankheiten der Fall ist.

IV. Die Palliativmittel schaden wahrscheinlich deshalb so sehr in chronischen Krankheiten, und machen sie hartnäckiger, indem sie nach ihrer ersten, den Symptomen entgegengesetzten Wirkung eine Nachwirkung zurücklassen, die dem Hauptübel ähnlich ist.

V. Je mehr krankhafte Symptomen die Arznei in ihrer direkten Wirkung erregt, welche mit den Symptomen der zu heilenden Krankheit überein stimmen, desto näher kömmt die künstliche Krankheit der zu entfernenden, desto gewisser ist man des guten Erfolgs.
VI. Da man fast als Axiom annehmen kann, dass die Symptome der Nachwirkung denen der direkten Wirkung gerade entgegengesetzt sind, so ist es einem Meister der Kunst erlaubt, wo die Nachrichten von den Symptomen der direkten Wirkung mangelhaft sind, das Fehlende durch Schlüsse, d.i. das Entgegengesetzte der Nachwirkungssymptomen in Gedanken zu ergänzen, das Resultat aber nur als Beitrag, nicht als Grundpfeiler seiner Beschlüsse zu betrachten.” 5)

In dieser bedeutenden Schrift, die 1796 erschienen ist, spricht sich Hahnemann eindeutig für die Verwendung der Erstwirkungen zur Wahl des Arzneimittels aus. In einem neuen Zusammenhang spricht er im Anschluss daran allerdings von der Palliation und auch von Nachwirkungen des palliativ wirkenden Mittels bei chronischen Krankheiten.
Weiter sagt er, dass aus den Nachwirkungen auf Erstwirkungen geschlossen werden kann. Dies allerdings nur mit Vorsicht. Diese Aussage Hahnemanns finden sich in seinen Organonausgaben später nicht mehr.

Der Kaffee in seinen Wirkungen (1803) (14)

“Unter dieser Kraft einer Arznei, den menschlichen Körper auf eine ihr eigenthümliche Weise zu verändern, verstehe ich ihre Vor- oder Anfangswirkung. Ich habe schon oben gesagt, dass die anfängliche Wirkung einer Arznei (während einiger Stunden nach ihrer Einnahme) das gerade Gegentheil von ihrer Nachwirkung, oder dem Zustande ist, in welchem sie den Körper zurückläßt, so bald ihre erste Wirkung vorüber ist.

Ist nun die Anfangswirkung einer Arznei gerade das Gegentheil von dem krankhaften Zustande des Körpers, den man eben heilen will, so ist ihre Anwendung palliativ. Es erfolgt fast augenblickliche Besserung – aber nach mehrern Stunden kömmt das Uebel wieder und steigt höher als es vor dem Gebrauche des Mittels war; die der ursprünglichen Krankheit ähnliche Nachwirkung des Medikaments verstärkt erstere. Eine erbärmliche Kurirart, wenn ein langwieriges Uebel damit bestritten werden soll.” 6)

Aus diesem Passus geht hervor, dass Hahnemann die palliative Wirkung der Arznei als Folge einer Verordnung auf antipathische Erstwirkungssymptome versteht. Die Nachwirkungssymptome dienen ihm zur Erklärung der verschlechterten Krankheitssymptomatik des Patienten. Diese Aussage Hahnemanns bezieht sich auf langwierige Übel (chronische Krankheiten).

Wie ist Palliation definiert?, muss an dieser Stelle gefragt werden. Aus den Paragraphen 56 – 58 ORG 6 ergeben sich eindeutig zwei wesentliche Kriterien für die Palliation. Die Wahl einer Arznei aufgrund eines einzelnen Hauptsymptoms und die Darreichung in großen Gaben. Der Wirkungsverlauf zeigt nach einer sofortigen Beschwerdefreiheit in Bezug auf dieses Symptom ein verstärktes Wiedererscheinen nach einiger Zeit (siehe auch den Artikel in der NHP 2004, Heft 5: “Reaktionen auf die Arzneimittelgabe”).

Heilkunde der Erfahrung (1805) (14)

“Bei der Einwirkung der einfachen Arzneien auf den gesunden menschlichen Körper entstehen zuerst Phänomene und Symptome, welche die von diesem Arzneimittel spezifisch zu erwartende positive Krankheit genannt werden kann, oder ihre positive, primäre (erste und vorzüglichste) Wirkung. (...)

Wendet man nun bei Behandlung einer Krankheit diejenige Arzenei an, deren erstere, positive Wirkungssymptome die größte Aehnlichkeit mit den Krankheitszufällen haben, so ist dieß eine positive oder kurative Heilart, das ist, es erfolgt, was nach dem zweiten Erfahrungssatze folgen muß, schnelle dauerhafte Besserung, (...)” 7)

“Ganz anders aber verhält es sich bei palliativen Kuren, wo man eine Arzenei braucht, deren positive primäre Wirkung das Gegentheil der Krankheit ist.” 8)
Auch hier zeigt sich, dass Hahnemann die Erstwirkungen als vorzüglichste Wirkung der Arzneien betrachtet und sie für die Arzneiwahl auszeichnet! Die palliative Wirkung macht er an der Verordnung nach Erstwirkungssymptomen, die ein Gegenteil des Krankheitssymptoms sind, fest.

Erstes Ergebnis
Es ist tatsächlich richtig, dass Hahnemann die Erstwirkungen für die Arzneimittelwahl favorisiert. Auch für die Behauptung, dass bei Verwendung der Nachwirkungssymptome, aufgrund deren Gegensätzlichkeit, es zur Palliation bei chronischen oder langwierigen Übeln kommt, gibt es Aussagen. Zumindest solche, aus denen dies zu folgern möglich ist. Allerdings liegen diese Aussagen in der Frühzeit der Homöopathie, vor Erscheinen des Organon der rationalen Heilkunde (Organon 1).

Den Paragraphen 112 und 137 des ORG 6 und den entsprechenden Paragraphen der früheren Organonausgaben ist zu entnehmen, dass Hahnemann in Bezug auf die Nachwirkungen vorsichtig geworden ist. Er beschreibt alleine seine positiven Erfahrungen, die er bei Verwendung der Erstwirkungen bei der homöopathischen Arzneiwahl macht.

Was steuern Hahnemanns Nachfolger zu diesem Thema bei?

...

Anmerkungen
1) Rissel 2004, 1583-1588
2) Metzger 1995, XXXIX
3) Hahnemann 1999, 151-152
4) Hahnemann 1999, 142
5) Schmidt/Kaiser 2001, 224
6) Schmidt/Kaiser 2001, 362-363
7) Schmidt/Kaiser 2001, 400-401
8) Schmidt/Kaiser 2001, 402
9) Schmidt 2001, 73
10) Möller 2002,16
11) Bönninghausen 1863, 53-55
12) Hering 1844, 166
13) Hering 1844, 167 168
14) Hering 1844, 173-176
15) Keller 2002, 422
16) Mezger 1995, XXXIX
17) Mezger 1995, Bd.1 401
18) Kurtz 1855, 69-71
19) Goullon 1855, 81-83

Literatur
(1) Bitzarakis, P.: Inhaltsregister für das Archiv für homöopathische Heilkunst – herausgegeben von Ernst Stapf und dem Verein deutscher Ärzte, Bd. 1- 23 (einschließlich der Supplement-Bände 1-3), 1822-1848, Konstanz: Werner Dingler Verlag, 1997
(2) Bönninghausen, C. v.: Die Aphorismen des Hippokrates, Leipzig 1836, fotomechanischer Nachdruck
(3) Genneper/Wegener: Lehrbuch der Homöopathie, 1.Aufl., Heidelberg: Haug, 2001
(4) Goullon: Ueber Erst- und Nachwirkungen, AHZ 1855; No11: 81-83
(5) Hahnemann, S.: Organon der Heilkunst, Textkritische Ausgabe der 6.Aufl., Neuausgabe, Heidelberg: Haug, 1999
(6) Hering, C.: Sendschreiben an die Versammlung homöopathischer Aerzte in Magdeburg, am 10.August 1844, ACS 1844; 21 Heft 3: 161-184
(7) Keller, G. v.: Gesammelte Aufsätze und Vorträge zur Homöopathie, Greifenberg: Hahnemann Institut, 2002
(8) Kurtz: Lässt es sich rechtfertigen die Richtungen der organischen Thätigkeiten als Grundlage der Mittelwahlen zu nehmen?, Zeitschrift für homöopathische Klinik 1855, Bd. IV., No. 8: 69-71
(9) Luft, B./Wischner, M.: Samuel Hahnemann Organon Synopse, Die 6 Auflagen von 1810 – 1842 im Überblick, Heidelberg: Haug, 2001
(10) Mezger, J.: gesichtete Homöopathische Arzneimittellehre, 11. Aufl., Heidelberg: Haug, 1995
(11) Möller, B.: Die Methodik Clemens von Bönninghausens, dargestellt anhand seines Therapeutischen Taschenbuchs, HZ Sonderheft 2002: 6-25
(12) Rissel, R.: Welchen Stellenwert hat die Lebenskraft in der Homöopathie Hahnemanns?, NHP 2004, Heft 11, 1583-1588
(13) Schmidt, Josef, M.: Taschenatlas Homöopathie in Wort und Bild, Heidelberg: Haug, 2001
(14) Schmidt, Josef, M. / Kaiser, D.(Hrsg.): Samuel Hahnemann: Gesammelte kleine medizinische Schriften, Heidelberg: Haug, 2001
(15) Stapf, E. (Hrsg.): Archiv für die homöopathische Heilkunst, Leipzig: Reclam, 1822-1848
(16) Wischner, M.: Fortschritt oder Sackgasse? Die Konzeption der Homöopathie in Samuel Hahnemanns Spätwerk (1824-1842), erster Nachdruck (2001) Essen: KVC – Verlag, 2000
(17) Wischner, M.: Organon für Anfänger, Essen: KVC-Verlag, 2002

Anschrift des Verfassers:
Roger Rissel
Friedrich-Naumann-Str. 24
55131 Mainz



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