Blätter für klassische Homöopathie

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Klassische Homöopathie

Die Vorteile der homöopathischen Therapie bei Schwangeren und Stillenden - Teil 3

Von Werner Dingler

Fall 6

Anfang September 1998 kam eine 34jährige Patientin wegen eines Kinderwunsches und Depressionen in meine Sprechstunde. Ihr Blick war ernst und sie wirkte ruhig. Sie erzählte, dass sie zum zweiten Mal verheiratet sei und seit einem Jahr einen Kinderwunsch habe, welcher bisher unerfüllt geblieben sei. Gynäkologische Untersuchungen hätten bisher keine pathologischen Befunde ergeben, insbesondere sei eine normale Hormonsituation und Ovulation nachgewiesen. Lediglich die Prüfung der Tubendurchgängigkeit stehe noch aus. Sie habe eine zehnjährige Tochter aus ihrer ersten Ehe. Bis vor 1 1/4 Jahren habe sie mit der Spirale verhütet, seither nicht mehr, trotzdem sei es bislang zu keiner Konzeption gekommen. Ein Spermiogramm des Ehemannes sei unauffällig gewesen.

Sie fühle sich dadurch minderwertig, d.h. nicht vollwertig, nicht als richtige Frau und auch unattraktiv, da sich ihr jetziger Mann sehnlichst ein eigenes Kind wünsche. Diese Minderwertigkeitsgedanken seien allerdings nicht neu, nur würden sie durch den unerfüllten Kinderwunsch noch verstärkt. Sie habe viele Ideen, sei begeisterungsfähig, habe aber oft zu wenig Energie und Ausdauer, diese in die Tat umzusetzen. Je älter sie werde, desto weniger gelinge ihr dies.

Heute zweifle sie mehr an sich, sei pessimistisch, früher sei sie optimistischer gewesen. Als sie mir dies erzählte, weinte sie. Sie wäre gerne so wie früher, doch das Leben habe sie geprägt. Ihr Selbstvertrauen habe in den vergangenen Jahren sehr gelitten, zum einen durch ihre berufliche Situation, in der sie immer unter Druck gestanden habe, denn es sei ständig mehr von ihr verlangt worden, als sie leisten konnte; zum anderen habe ihr früherer Ehemann sie nie schön gefunden. Dabei kamen ihr wieder die Tränen. Sie habe nie gelernt, sich autoritären Männern gegenüber durchzusetzen, bei Spannungen reagiere sie wie eine Dreijährige, renne weg und weine.

An weiteren Beschwerden gab die Patientin folgende an: Kreislaufstörungen, Schwindel, beim Aufstehen vom Sitzen, besonders bei warmem Wetter und dies seit ihrer Jugendzeit. Allgemeines Unwohlsein bei heißem Wetter, bekommt dann auch dicke Beine. Schlechter Geschmack im Mund, geschwollene Tonsillen mit übel riechenden Absonderungen (“stinkende Kügelchen”). Schlechte (kariöse) Zähne seit dem 4. Lebensjahr. Der Zahnarzt meinte, dies sei kaum zu stoppen. Großporige, unreine Haut, v.a. im Gesicht. Dies sei schon viele Jahre so. PMS seit vier Jahren. Ich ließ mir ihre Symptome diesbezüglich genauer beschreiben und sie erklärte Folgendes: Etwa eine Woche vor der Menstruation werde sie unzufrieden, finde alle anderen Menschen blöd, werde streitsüchtig, ungeduldig und wütend. Gleichzeitig sei sie überempfindlich und breche aus dem geringsten Anlass in Tränen aus. Sie sagte wörtlich, sie sei “ungezügelt im Austeilen, mimosenhaft im Einstecken.” In dieser Phase habe sie eine ungeheure Lust auf Süßigkeiten. Weiterhin bemerke sie vermehrte Winde, welche wie faule Eier riechen würden, und zwar egal, was sie äße, alles verwandle sich in faule Eier. Dann erwache sie eines Morgens mit ausgezeichnet guter Laune, das Zänkische und Weinerliche sei abgefallen und sie wisse, dass sie an diesem Tag ihre Menses bekäme und sich wieder im Normalzustand befände. Gegen obige Beschwerden habe sie auch schon erfolglos Mastodynon eingenommen. Ihre Menarche hatte sie mit 15 1/2 Jahren. Der Menses-Zyklus war verlängert, er betrug schon immer 35 Tage. Dies sei auch bei ihrer Mutter so gewesen, mit der sie überhaupt mehr Ähnlichkeit als mit dem Vater habe. Von ihm habe sie nur den Jähzorn.

Ferner litt sie immer wieder an rezid. Herpes labialis unterhalb des li. Mundwinkels seit dem 15. Lebensjahr, v.a. bei Stress oder Sonnenexposition. Dann berichtete sie noch, dass sie beim Einatmen immer wieder Stiche im li. Brustbereich spüre, von schräg oben ins Herz, so dass sie kurz den Atem anhalten müsse.

Seit zwei Tagen litt sie an Halsschmerzen, ausstrahlend zum re. Ohr. Halsschmerz im ganzen Hals mit rauem, scharrigem Gefühl, der Hustenreiz auslöste. Die gesamte Luftröhre sei empfindlich, sagte die Patientin.

Weitere Angaben und frühere Beschwerden der Patientin waren folgende: Obwohl ihr Wärme nicht so angenehme sei, leide sie oft an kalten Füßen. Geschlossene Räume und verbrauchte Luft vertrage sie nicht. Sie schlafe nur bei offenem Fenster und müsse selbst im Winter häufig die Fenster öffnen. Herbst und Frühjahr seien ihr angenehmer als der Sommer. Sie habe es lieber frisch und kühl und sei deshalb lieber im Gebirge als am Meer. Verlangen habe sie nach scharfen, salzigen Speisen (Chips, würzigem Käse). Es bestand Abneigung gegen Milch. Seit der Kindheit könne sie keine Milch trinken, schon der Geruch löse Ekelgefühle aus. Seit einem Magen-Darm-Infekt vor zehn Jahren vertrage sie keine Paprika, sie lägen ihr stundenlang im Magen und verursachten Aufstoßen. Sie habe viel Durst.

Sie schlafe meist auf dem Rücken mit den Armen über dem Kopf, müsse sich dann aber auf die re. Seite drehen, weil ihr die Arme einschliefen. Ihr Schlaf sei normalerweise gut, nur im Berufsstress träume sie von der Arbeit. In letzter Zeit träume sie jedoch oft davon, in der Öffentlichkeit oder bei fremden Menschen auf die Toilette gehen zu müssen, was ihr sehr peinlich sei. Sie träume in einer fremden Wohnung auf der Toilette zu sein, in der es keine Türe zum Abschließen gäbe, und zu stuhlen. Sie habe Angst davor, dass es stinke und dass sie sich vor den anderen den Po abputzen müsse. Dies sei auch in Wirklichkeit so: Sie könne sich nicht vorstellen, im Krankenhaus im Beisein anderer Personen auf dem Topf zu stuhlen. Der Gedanke sei ihr unerträglich. Im Beisein anderer zu urinieren oder zu weinen mache ihr dagegen nichts aus. Ein anderer Traum, den sie seit Jahren immer wieder träume, sei der, von einer großen Wasserwelle verfolgt zu werden und es gerade noch zu schaffen, einen Berg zu erklimmen um nicht fortgespült zu werden.

Im Alter von 8 sowie 17 Jahren sei sie an Angina tonsillaris erkrankt gewesen, welche beide Male antibiotisch therapiert worden waren. Seit dem 17. Lebensjahr träte immer, wenn es ihr nicht gut gehe, unter der Nase ein Ausschlag auf, der durch keine Therapie beeinflusst werden könne. Während ihrer ersten, unglücklichen Ehe, in der sie sich sechs Mal von ihrem Mann getrennt habe, sei der Ausschlag ständig vorhanden gewesen und erst mit der endgültigen Scheidung vergangen. Wegen der gemeinsamen Tochter habe sie sieben Jahre lang versucht, diese Beziehung aufrecht zu erhalten.

Weitere frühere Erkrankungen waren:
Mit 17 Jahren Morbus Scheuermann.
Mit 24 Jahren, nach Geburt der Tochter, Ulkus duodeni.
Mit 28 Jahren Ovarzyste re.
Mit 31 Jahren rezid. Furunkulose an der Innenseite des re. Oberschenkels sowie in der li. Achselhöhle.

Am Ende der Anamnese berichtete die Patientin, dass sie Ende des letzten Jahres für sich selbst ein homöopathisches Mittel ausgewählt habe (Lyc.), welches sie in der D12, 1 Tbl. tägl. über zwei Monate eingenommen habe. Schon nach der ersten Einnahme sei sie depressiv geworden. Die Depression habe sich dann so verschlimmert, dass ihr Ehemann und ihre Tochter sie gebeten hätten, das Medikament wieder abzusetzen. Eine Besserung ihrer chronischen Beschwerden habe sie von diesem Medikament nicht bemerkt.

Bei der körperlichen Untersuchung stellte ich zusätzlich Folgendes fest: Halsschleimhaut gerötet, glasiges Sekret, kein Eiter. Herz und Lunge o.B., Vesikuläratmen. RR 100/60 mmHg, Puls 68/Min., rhythmisch. Reflexe abgeschwächt, Patellarsehnenreflex fehlte.

Aufgrund der genannten Beschwerden, s. o. Repertorisation kamen für mich Sulf., Puls. und Sil. als mögliche Heilmittel in Frage, auch an Ambr. dachte ich kurz. Es hat das sonderliche Gemütssymptom “Stuhlen in Anwesenheit anderer unmöglich”, doch hat es sonst keinerlei Beziehung zum übrigen Krankheitsbild. Die Verordnung auf ein einzelnes sonderliches Symptom hat mir selten einen Heilerfolg beschert. Deshalb betrachtete ich die Gesamtheit der Symptome dieser Patientin und ein sonderliches Symptom, welches ich in der oben dargestellten Repertorisation nicht aufgenommen hatte, nämlich die Stiche in der li. Brust beim Einatmen (s. Kents Repertorium, Bd. 2, S. 279 re. unten, eine kleine Rubrik, in welcher Sulf. 3wertig aufgeführt ist). Ich entschied mich, mit Sulf. die Therapie zu beginnen.

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Literaturangaben:
Hahnemann, Samuel: Organon der Heilkunst, 5. Aufl. Heidelberg. 1987.
Hahnemann, Samuel: Organon der Heilkunst, 6. Aufl. Heidelberg. 1996.
Hahnemann, Samuel: Die chronischen Krankheiten (CK), Heidelberg. 1979.
Kennt, James T.: Repertorium der homöopathischen Arzneimittel, 13. Aufl., Heidelberg. 1993.
PC-Repertorisationsprogramm Com Rep ML (Dipl. Ing. Franz Simbürger, Eching)

Anschrift des Verfassers:
Werner Dingler
Schottenstr. 75
D-78462 Konstanz



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