Das bio-psycho-soziale Krankheitskonzept und der multimodale Therapieansatz: Chronische Schmerzen

von Wolfgang Weigl

Chronische Schmerzen sind ein zunehmendes Problem unserer heutigen Welt – für den Patienten, der sich unrealistischen Heilserwartungen ausgesetzt sieht und häufig durch Starren aufs Symptom noch stärker chronifiziert – für den Arzt, der sich mit einseitigen Reparaturwünschen konfrontiert sieht und dem ein Eingehen auf die gesamte Situation des Patienten auch berufsbildbedingt schwergemacht wird – für die Gesellschaft, die immer höhere Aufwendungen für chronische Schmerzpatienten direkt (Kassenkosten) sowie mittelbar (volkswirtschaftliche Kosten, Arbeitsausfall) aufbringen muss.

Das biopsychosoziale Krankheitskonzept (nach Egle & Hoffmann, 2003)

Einfache linear-kausale Zusammenhänge – so praktisch sie für unser tägliches berufliches Handeln sein mögen – können den komplexen biopsychosozialen Zusammenhängen bei der Entstehung von Krankheit bzw. dem Erhalt von Gesundheit nicht gerecht werden. Im Rahmen eines biopsychosozialen Krankheitsverständnisses, wie es Ende der Zwanziger Jahre von G.L. Engel entwickelt wurde, ist der Mensch Teil umfassender Systeme und selbst wieder ein System aus vielen Subsystemen, bis hinab auf die molekulare Ebene. Diese Ebenen sind so integriert, dass das jeweilige Subsystem über eine gewisse Autonomie verfügt, gleichzeitig aber auch von übergeordneten geregelt werden kann. Es handelt sich hier um eine Hierarchie von Systemen, die nach kybernetischen Prinzipien mit Programmen aus Regulation und Gegenregulationen, zugehörigen Soll- und Istwerten, Steuer- und Rückmeldevariablen funktionieren und jeweils über eigene Zeichen und Kodierungen verfügen (Meyer, 1989).

Das im Medizinstudium implizit vermittelte Modell entspricht dem von der Physik in der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten Reiz-Reaktion-Prinzip der Mechanik und hat zweifelsohne zu ganz wesentlichen Fortschritten in der Medizin beigetragen. Das Defizit dieser Reiz-Reaktion-Konzeption des Schmerzes, die auf Descartes zurückgeht, liegt wesentlich in der Annahme begründet, der Reiz sei ein unabhängig vom Organismus existierendes Ereignis, das dessen Verhalten (als kausale Folge) hervorbringt. Sind der Organismus und seine Organe aber primär aktive Systeme – wie es die Systemtheorie impliziert – kann ein Vorgang aus der Umgebung dort kein Geschehen bewirken (wie er es in einem ruhenden Gebilde könnte), sondern lediglich das Verhalten des bereits aktiven Systems modifizieren. Für die Reaktion des biologischen Systems ist also nicht nur der äußere Vorgang (der Reiz) entscheidend, sondern ebenso dessen innerer Zustand (die Reaktionsbereitschaft), den man Mithilfe des kybernetischen Modells als einen vom Sollwert abweichenden Istwert oder als gestörtes homöostatisches Gleichgewicht beschreiben kann. So wird in der Biologie ein Organismus nicht primär durch Reize selbst, sondern erst z.B. durch ein Bedürfnis nach Nahrung, nach einem Geschlechtspartner, nach Wärme usw. veranlasst, auf Reize zu reagieren. Ohne dieses Bedürfnis würde der Reiz gar nicht existieren.

Unter diesem Blickwinkel deckt die Definition des Schmerzes der IASP 1 (1979): “Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potentieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.”, sowohl den akuten als auch den chronischen Schmerz ab. Chronische Schmerzempfindung hat dabei ihre Warnfunktion verloren und steht damit für etwas anderes.

Bei chronischen Schmerzpatienten führen daher die aus dem Maschinenmodell herrührenden Diagnosen immer wieder zu chirurgischen Interventionen (typisches Beispiel: Unterleibsschmerz), da diesen das reduktionistische Verständnis des Schmerzes als Signal einer organpathologischen Störung zugrunde liegt.

Für praktische Belange ist es zunächst ausreichend zu akzeptieren, dass sich ein chronisches Schmerzsyndrom je nach Person aus unterschiedlichen Anteilen von körperlichen, seelischen und sozialen Faktoren zusammensetzt. Wir bevorzugen dabei eine Definition des chronischen Schmerzes, welche mehr auf die erlebten Einschränkungen sowie frustrane Therapieversuche als auf die Zeitdauer abstellt: “Ein chronisches Schmerzsyndrom ist eine Störung, die über eine längere Zeit besteht, die Person in Verhalten und Erleben bedeutsam beeinträchtigt und zu vielfältigen, zum Teil wenig erfolgreichen Behandlungsversuchen geführt hat.”

Zu den Risikofaktoren für die Chronifizierung von Schmerzen zählen dabei (neben iatrogenen) wesentlich psychische und soziale Faktoren:

– gravierende (traumatische) Belastungen in der Biografie der Patienten

– aktuelle Stressoren, wie Familienkonflikte oder Probleme am Arbeitsplatz

– eine vorbestehende oder sich entwickelnde psychische Komorbidität (z.B. Depression)

– ungünstige Strategien im Umgang mit Schmerz, wie die Neigung zu Selbstüberforderung, übermäßiges Durchhaltevermögen, aber auch Angst-Vermeidungsverhalten

– unkontrollierte Medikamenteneinnahme

Diese psychosozialen Faktoren werden leider häufig nicht rechtzeitig in die Beurteilung und Behandlung einer chronischen Schmerzsymptomatik mit einbezogen, so dass in der Folge die Patienten verschiedensten, zum Teil auch invasiven monodisziplinären Therapien zugeführt werden, welche häufig zu einer weiteren (iatrogenen) Chronifizierung beitragen. (Als Beispiel hier nicht zuletzt die Unzahl von Operationen an der Wirbelsäule ohne wirklichen gravierenden organpathologischen Grund.) 2

Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie

Ziele einer multimodalen Schmerztherapie auf verhaltenstherapeutischer Basis

Effektivität multimodaler Programme zur Schmerztherapie

Wirksamkeit aus Patientensicht

Naturheilkunde und multimodale Therapie

Zugang zu einer multimodalen Therapie

Literaturhinweis:
Egle, Hoffmann, Lehmann, Nix, Handbuch chronischer Schmerz, Grundlagen, Pathogenese, Klinik und Therapie aus bio-psycho-sozialer Sicht, Schattauer 2003

Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Wolfgang Weigl
Schmerztagesklinik im Klinikum Traunstein
Cuno-Niggl-Str. 3
83278 Traunstein



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