Medizinweisheit der Inka

von Walter Andritzky

Teil II

Teil I

Kosmologie und Medizin

Eindrucksvollstes Dokument des inkaischen Weltbildes ist jene Handzeichnung, die der Mestize Santa Cruz Pachacuti vom Altarbild des Sonnentempels in Cusco hergestellt hatte. Das Bild lässt sich in drei Ebenen gliedern: Den Raum von Sonne, Mond und Sternen, wobei sich ein duales Schema ergibt in dessen Mitte ein langes Oval und darunter ein Geviert aus Sternen zu sehen ist. Das Oval bezeichnet jene höchste, unsichtbare Gottheit Viracocha, die hinter allen sichtbaren Erscheinungen wie Sonne, Mond, dem Blitz und Donner steht. Das Geviert bezeichnet mit großer Wahrscheinlichkeit die Konstellation des Kreuz des Südens im Mittelpunkt der Milchstraße, wie sie sich auf der südlichen Hemisphäre darbietet. Der Architekt Milla Villena hat in zahlreichen Vermessungen an Tempelresten nachgewiesen, dass diese Konstellation Maßrelationen für Tempel und ihre Ausrichtung abgegeben haben muss. Unterhalb der himmlischen Sphäre ist im Altarbild die Erde (pachamama) als Kreis mit drei Eingängen, ein Menschenpaar und auf der rechten Seite das Meer (mamacocha) abgebildet. Aus einem Brunnen, der durch einen Strich mit dem Meer verbunden ist, steigt ein Jaguar auf, dessen Augen Hagel sprühen, der die Ernten im Hochland vernichtet. Ganz unten schließlich ist eine Anbauterrasse skizziert.

Eine der wichtigsten Erscheinungsformen des Viracocha ist der Blitz: Noch im heutigen Volksglauben wird ein neuer Heiler von Viracocha berufen, wenn ihn drei Blitzschläge treffen: der erste tötet ihn, der zweite zerteilt seinen Körper in viele Splitter und der dritte setzt ihn wieder zusammen.

Der Sinn des Vorgangs wird erst klar, wenn man weiß, dass der Blitz eine vitale Lebensenergie verkörpert, die im Quechua enqa heißt und Ähnlichkeit mit dem prana der Yoga-Lehre und dem chinesischen chi hat: Der Initiant wird so gleichzeitig getötet und mit der Vitalenergie enqa erfüllt, die Wiedergeburt und Heilkraft bedeutet.
An der Stelle der mittleren Goldscheibe befanden sich zuvor drei Scheiben, die Viracocha als eine dreifaltige Gottheit charakterisieren. Guaman Poma de Ayalaschrieb dazu:

“Sie wussten, dass ein wahrer Gott existiert in drei verschiedenen Personen. Die erste nannten sie yapan illahanan, glänzender Vater oder Blitz, den zweiten chaupi churin oder halbglänzender Sohn und den dritten sullca churin”.

Das Altarbild offenbart vor dem Hintergrund der sakralen Mitte, die durch den unsichtbaren Gott Viracocha symbolisiert wird, eine duale Kosmologie männlicher und weiblicher Erscheinungen. Horizontal betrachtet erscheint eine Schichtung kosmischer Ebenen von Himmel, Erde und Unterwelt.

Hören wir, wie Garcilaso de la Vega die Kosmologie der Inka überliefert:

“Sie teilten das Universum in drei Welten: Den Himmel nannten sie hanan pacha, was hohe Welt bedeutet und von dem sie sagen, dass die Guten hinkamen und für ihre Tugend belohnt wurden. Hurin pacha nennen sie diese Welt und Generation, was niedere Welt bedeutet. Ucu pacha nennen sie den Mittelpunkt der Erde, was untere Welt bedeutet, wo sie sagen, dass die Schlechten bleiben und um es genau zu beschreiben, gaben sie ihr einen anderen Namen, zupaipa huancin, was Haus des Dämons bedeutet”.

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Anschrift des Verfassers:
Dr. phil. Walter Andritzky
Kopernikusstr. 55
40225 Düsseldorf



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