Psychische Aspekte Tinnitus

von Christopher Konzelmann

Tinnitus ist ein sehr altes Phänomen. Erste Aufzeichnungen sind in alten ägyptischen und babylonischen Schriftrollen zu finden. In der Menschheitsgeschichte gab es einige berühmte Figuren, die unter Tinnitus gelitten haben, darunter Martin Luther (1483 – 1546), er litt unter Morbus Menière und Jean Jaques Rousseau (1712 – 1778), der vermutlich einen Hörsturz hatte, mit Innenohrschwerhörigkeit und Tinnitus als Folge. Dann war da noch Ludwig van Beethoven (1770 – 1827), bei dem im Alter von 28 Jahren eine langsam fortschreitende Innenohrschwerhörigkeit begann, begleitet von Tinnitus, die sich in seinem späteren Leben zu kompletter Taubheit entwickelte: „Meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort, ich kann sagen, ich bringe mein Leben elend zu.“ Seine letzten Werke hat Beethoven in nahezu vollständiger Taubheit komponiert. Friedrich Smetana (1824 – 1884), Francisco Goya (1746 – 1828) und Vincent van Gogh (1853 – 1890) litten ebenfalls unter Ohrgeräuschen.

Doch so verbreitet wie heute war der Tinnitus wohl noch nie. Er entwickelt sich immer mehr zu einer neuen Volkskrankheit. Womit hat das zu tun? Das ist mit Sicherheit keine einfach zu beantwortende Frage. Viele Faktoren spielen für die Entstehung von Ohrgeräuschen eine Rolle. Daß sich das Symptom aber gerade in unserer lauten, hektischen und individuellen Leistungsgesellschaft derart ausbreitet, zeigt, daß hier wesentliche Zusammenhänge zu finden sind. Zweifellos stellen ständiger Lärm und Streß, Vereinsamung und die daraus entstehende Depression wesentliche Faktoren dar, die zur Entstehung von Tinnitus beitragen.

Wenn Tinnitus neu entsteht, ist die Ursache dafür oft im Innenohr zu finden, wie z.B. bei einem Lärmtrauma, einem Hörsturz oder auch bei Morbus Menière. Das bleibt jedoch nicht so. Psychische Faktoren spielen mit der Zeit eine immer größere Rolle, denn nach einiger Zeit fängt der Tinnitus an sich zu verselbständigen. In Fachkreisen spricht man von „zentralisieren“, der Tinnitus zentralisiert nach einigen Monaten.

Das ständige Hören des gleichen Geräuschs wirkt auf die entsprechenden Nervenbahnen wie ein Training. Es findet eine Bahnung statt. Häufig benutzte Nervenbahnen werden, um dem Bedarf gerecht zu werden, weiter ausgebaut. Rücklaufschleifen zwischen verschiedenen Zentren im Gehirn, vorwiegend aber dem limbischen System, das für die inhaltlich, emotionale Bewertung des gehörten Geräuschs zuständig ist, geraten aus dem natürlichen Gleichgewicht und verselbständigen sich. Die eigentliche Entstehungsursache im Innnohr spielt dann nur noch eine untergeordnete Rolle. In vielen Fällen kann diese sowieso kompensiert werden. Der Prozeß der Zentralisierung des Tinnitus ist zugleich der Prozeß der Chronifizierung. Per Definition spricht man bei einem Ohrgeräusch, das bereits länger als sechs Monate besteht vom „chronisch komplexen Tinnitus“. Bis vor kurzem wurden Tinnitus-Patienten in schweren Fällen, als Notlösung, die Nervenverbindung zwischen Innenohr und Gehirn durchtrennt. Der Gedanke dabei war, wenn es keine Verbindung zwischen dem gestörten Ohr und dem Gehirn gibt, gibt es auch keinen Tinnitus mehr. Das hat sich aber in vielen tragischen Fällen als Trugschluß herausgestellt. Das Ergebnis des Eingriffs war für den Betroffenen oft vollständige Taubheit. Weil das Ohrgeräusch aber bereits zentralisiert und damit chronifiziert war existierte es auch danach noch, trotz fehlender Nervenverbindungen immer noch.

Psychische Aspekte bei der Tinnitusentstehung

Psychische Aspekte bei der Tinnitustherapie

1. Nicht das Ohrgeräusch selbst erzeugt Leidensdruck, sondern dessen Bedeutung für die betroffene Person.

2. Tinnitus ist erfahrungsgemäß immer eine Begleiterscheinung von Streß, Angst und/oder Depression, die wiederum die Folge langjährig bestehender, unbewußter Glaubensätze sind.

3. Das kritische Hinterfragen unbewußter Glaubensätze ist ein therapeutisches Mittel mit großem Potential, daß auch beim chronisch komplexen Tinnitus hervorragend funktioniert.

4. Es wäre in vielerlei Hinsichten vorteilhaft kompetente Tinnitus-Beratungsgespräche für akute Fälle zu etablieren.

5. Die Tinnitus-Retraining-Therapie ist derzeit die beste Therapie beim chronisch komplexen Tinnitus. Sie berücksichtigt die wesentlichen, hier diskutierten Aspekte und vereint sie mit zusätzlichen, alternativen Therapiemethoden.

Fallbeispiel:

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Anschrift des Verfassers:
Dipl. Psych. Christopher Konzelmann
Neue Weinsteige 36
70180 Stuttgart



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