Phytotherapie aus dem frühen Mittelalter

Eine medizinhistorische Betrachtung über Hildegard von Bingen

von Hans Hanisch

Hildegard von Bingen ist wohl die populärste Persönlichkeit des Mittelalters. So ziemlich jeder kennt den Namen aus den Regalen der Naturkostläden und Reformhäuser, vom Dinkelspelz-Kissen und den Heilsteinen. Und natürlich aus Hunderten von Kochbüchern, Gesundheitsratgebern. Die Vielfalt war’s, die mich dazu brachte, mich mit dem Thema auseinander zu setzen. Da ich der Ansicht bin, dass jede Therapie einer gewissen Logik, einem Schema folgt, wollte ich dieses Schema für die Hildegard-Medizin ergründen. Aus dem aktuellen Angebot von Informationen und Praktiken war dieses Schema nicht ersichtlich. Also nach den Wurzeln graben. Diese Wurzeln liegen mehr als 800 Jahre in der Vergangenheit und sind tatsächlich sehr verzweigt. Hildegard von Bingen war offensichtlich eine sehr fleißige Autorin. Allerdings bezieht sich das Hauptwerk auf ihre Eigenschaft als Äbtissin.

Die theologischen Texte sind uns weitgehend original aus der klösterlichen Schreibstube Hildegards erhalten. Auch existiert ein “Riesencodex”, eine zeitnahe Zusammenfassung des theologischen Werkes, die ihr Neffe Wezelin nach ihrem Tode erstellt hat (Speyerer Kräuterbuch S. 11).

Von den medizinisch-naturwissenschaftlichen Schriften sind bisher keine Originale gefunden worden. Dass Hildegard sich mit solchen Themen auseinandergesetzt hat, ist durch das erhaltene Schrifttum erwiesen, in dem die medizinischen Schriften “Liber simplicis medicinae” und “Liber compositae medicinae” erwähnt sind (Physica S. 10; 11). Für den Liber compositae medicinae, heute bekannt als “Causa et curae” kennen wir nur eine Handschrift aus dem 13. Jahrhundert. Der Liber simplicis medicinae, die heutige “Physica”, ist bisher in 9 historischen Ausgaben gefunden worden. Die älteste dürfte um 1300 geschrieben sein, die jüngste wurde 1533 durch J. Schott in Straßburg gedruckt (Speyerer Kräuterbuch S. 13; 14). Dass der Causa et curae nicht in gleicher Vielfalt vorliegt, mag (nach meiner eigenen Meinung) am Hang der Menschheit zu fertigen Rezepten liegen. Im Causa et curae (Ursachen und Heilung) geht es mehr um Grundlagen, in der Physica ist die Anwendung der Heilmittel beschrieben.

Damit ist die Problemstellung der Hildegard-Medizin angerissen. Es handelt sich bei dem Druck aus 1533 ja nicht um die 9. unveränderte Ausgabe der Physica. Der mittelalterliche (Ab-)Schreiber hatte nicht im Sinn, die Tradition aufrecht zu erhalten, er wollte ein zeitgemäßes Lehrbuch schaffen. Je nach Kenntnis und Erfahrung hat er also Absätze als schädlich oder nutzlos weggelassen, dafür andere zugefügt, teilweise Änderungen entsprechend dem Zeitgeist und Wissensstand vorgenommen oder ganze Bücher zusammengeführt. Ein schönes Beispiel ist das “Speyerer Kräuterbuch”, 1456 geschrieben von Wilhelm Gralap. Dieses Kräuterbuch wurde 1994 in einer textkritischen Ausgabe von Barbara Fehringer editiert und enthält Texte aus mindestens 4 verschiedenen Schriften. Zunächst hat jemand um 1200 den Teil “De herbis” der Physika aus dem Lateinischen übersetzt. Dabei war wohl sein Bestreben, ein Kräuterbuch nach damaligem Stil zu schreiben. Alle Kapitel, die nichts mit Pflanzen zu tun hatten, ließ er weg. Dass auch die letzten 30 Kapitel fehlen, wie sie in der Physica-Übersetzung von Marie-Louise Portmann vorhanden sind, deutet auf eine spätere Beifügung dieser Kapitel hin. Sie waren also in der “Original-Physica” nicht vorhanden. Das Gleiche gilt für die Kapitel 1-171 bis 1-177 der Portmann-Übersetzung, in welchen z.B. Weihrauch und Aloe beschrieben sind. Ansonsten hielt sich der Übersetzer wohl ziemlich streng an die Vorlage (Speyerer Kräuterbuch S. 28). Lediglich beim Weizen hat er eingegriffen. Hildegard empfiehlt entgegen der damaligen Meinung Vollkornmehl, was in der Übersetzung nicht erwähnt ist.

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Literatur:
Wilhelm Gralap: Das Speyerer Kräuterbuch, editiert von Barbara Fehringer, Königshausen & Neumann
Hildegard v. Bingen: Heilkraft der Natur-”Physica”, übersetzt von Marie-Louise Portmann, Herder
Margret Wenigmann: Phytotherapie, Urban & Fischer 1999
Dr. Hans-Peter Dörfler/Prof. Dr. Gerhard Roselt: Heilpflanzen gestern und heute, 5. Auflage, Urania-Verlag

Anschrift des Verfassers:
Hans Hanisch
Heilpraktiker
Wagenschwender Str. 15
74838 Limbach-Balsbach
E-Mail: HP.Hanisch@t-online.de



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Naturheilpraxis 11/2004