Neues zu den neurobiologischen Grundlagen chronischer Schmerzen:
Schmerzwahrnehmung kann auch eine Gefühlwahrnehmung sein

von Harald Gündel und Thomas Tölle

Einleitung

Nicht wenige Patienten mit chronischen Schmerzen berichten im psychosomatischen Erst- oder Zweitgespräch über belastende innerseelische bzw. psychosoziale Erfahrungen oder langdauernde Stressbedingungen im Umfeld des erstmaligen Auftretens oder der Verschlechterung ihrer Beschwerden. Auch im Verlauf einer Schmerzchronifizierung werden nicht selten massive psychische Beeinträchtigungen wie Einsamkeitsgefühle, Ängste und Depressionen, aber auch aus spezifischen Beziehungserfahrungen stammende Gefühle wie Enttäuschung und Wut spürbar. Spätestens mit dem weiterem Fortschreiten der Schmerzchronifizierung vermischen sich primär somatische sowie primär seelische Einflussfaktoren zu einem häufig kaum entwirrbaren gemeinsamen Ganzen. Ohnehin weisen chronische Schmerzerkrankungen auch auf einer epidemiologischen Untersuchungsebene eine hohe Komorbidität mit krankheitswertigen psychischen Störungen, insbesondere Angsterkrankungen und Depressionen, auf. In einem in den USA anhand einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe durchgeführten „Nationalen Komorbiditäts-Survey“ (N=5877) litten z.B. unter den Patienten mit chronischen Schmerzen 35,1% an einer krankheitswertigen Störung aus der Gruppe der Angsterkrankungen und 20,2% an einer krankheitswertigen depressiven Störung (McWilliams et al., 2003).

In letzter Zeit wurden insbesondere durch moderne Bildgebungs-Studien die neurobiologischen Grundlagen dieser klinisch so oft beobachtbaren Wechselwirkung zwischen (negativen) Gefühlen und individueller Schmerzwahrnehmung deutlicher. Diese aktuellen Erkenntnisse sollen im folgenden kurz zusammengefasst werden:

Neurobiologische Grundlagen chronischer Schmerzen:

Schon vor über 50 Jahren nahm Paul McLean an, dass insbesondere eine intrazerebrale Wechselwirkung zwischen limbischen („visceral“) und neokortikalen Arealen die Ausprägung einer primär organischen Erkrankung beeinflussen kann: „Emotional feelings, instead of finding expression and discharge in the symbolic use of words and appropriate behavior, might be conceived as being translated into a kind of ´organ language´ (Psychosomatic Medicine, 1949, 11:338-353).

Tatsächlich besteht die subjektive Schmerzwahrnehmung aus einem mehr sensorischen und einem mehr affektiven Anteil und erfolgt innerhalb eines komplexen zentralnervösen Schmerznetzwerkes (Abb. 1 - siehe Naturheilpraxis 05/2004).

Sensorischer und affektiver Anteil der Schmerzwahrnehmung sind getrennte und unterscheidbare Dimensionen der letztendlichen Schmerzempfindung, die in unterschiedlicher Relation zum schmerzauslösenden Stimulus stehen und unterschiedlich von psychoreaktiven Faktoren beeinflusst werden (Price, 2000).

Neurobiologisch identifizierbare, zentralnervöse Bestandteile des Schmerznetzwerkes sind somatosensorischer und motorischer Kortex, der ACC, parietale und präfrontale cortikale Areale sowie Insel, Thalamus und Zerebellum.

Die (sensorische) Intensität eines Schmerzreizes wird vor allem über den vorderen Anteil der Insel, Teile des somatosensorischen Kortex (SII) und den kontralateralen Thalamus prozessiert (Peyron et al., 1999).

Die affektive „Qualität“ eines Schmerzreizes, d.h. Art und Ausmass der subjektiv empfundenen Unangenehmheit („grässlich“, „scheusslich“, „quälend“, etc.), wird u.a. über Aktivierungen im dorsalen ACC (BA 24) und der Insel reguliert (Price, 2000; Rainville, 2002). Aktivierungen in der Region der Insel werden mit der Regulation schmerzbezogener vegetativ-autonomer Vorgänge in Verbindung gebracht.

Zwischen der Ausprägung der affektiven Schmerzdimension („Unangenehmheit“) und dem Ausmass psychometrisch gemessenen „Neurotizismus“ wurde sowohl bei experimentell induzierten Schmerzen als auch bei Patienten mit chronischen Schmerzen ein positiver Zusammenhang nachgewiesen (Price, 2000).

Darüber hinaus haben der dorsale („kognitive“) Anteil des ACC, der dorsolaterale präfrontale Kortex und der Thalamus auch wichtige Funktionen bei der Prozessierung bewusster Aufmerksamkeit (Peyron et al., 1999), was wiederum die subjektive Wahrnehmung von Schmerzintensität und -unangenehmheit beeinflussen kann:

In einer Reihe von funktionellen Bildgebungsstudien konnten Rainville et al. zeigen, dass hypnotisch induzierte Variationen im Ausmass der subjektiven Unangenehmheit eines Schmerzreizes mit signifikanten Veränderungen der Aktivierung im ACC einhergingen (Hofbauer et al, 2001).

Klinisch ist schon lange bekannt, dass in Situationen der existentiellen Bedrohung, z.B. während einer Kriegshandlung, auch schwere Verletzungen zunächst subjektiv schmerzfrei bleiben können. Solche Berichte legen nahe, dass durch die Verlagerung der bewussten Aufmerksamkeit von einem Schmerzreiz zu einem anderen Stimulus eine Verringerung subjektiven Schmerzes möglich ist.

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Literatur:
Craig AD. Interoception: the sense of the physiological condition of the body.Curr Opin Neurobiol. 2003;13(4):500-5.
Coghill RC, McHaffie JG, Yen YF. Neural correlates of interindividual differences in the subjective experience of pain. Proc Natl Acad Sci U S A. 2003;100(14):8538-42.
Eisenberger NI, Lieberman MD, Williams KD. Does rejection hurt? An FMRI study of social exclusion. Science. 2003 Oct 10;302(5643):290-2.
Hofbauer RK, Rainville P, Duncan GH, Bushnell MC. Kortical representation of the sensory dimension of pain. J Neurophysiol. 2001;86(1):402-11.
Lorenz J, Minoshima S, Casey KL. Keeping pain out of mind: the role of the dorsolateral prefrontal Kortex in pain modulation. Brain. 2003;126:1079-91.
MacLean PD. Psychosomatic disease and the ”visceral brain”: recent developments bearing on the Papez theory of emotion. Psychosom Med 1949; 11:338-353.
McWilliams LA, Cox BJ, Enns MW. Mood and anxiety disorders associated with chronic pain: an examination in a nationally representative sample. Pain 2003; 106:127-133.
Peyron R, Garcia-Larrea L, Gregoire MC, Costes N, Convers P, Lavenne F, Mauguiere F, Michel D, Laurent B. Haemodynamic brain responses to acute pain in humans: sensory and attentional networks. Brain. 1999;122 ( Pt 9):1765-80.
Price DD. Psychological and neural mechanisms of the affective dimension of pain. Science 2000;288(5472):1769-72.
Rainville P. Brain mechanisms of pain affect and pain modulation. Curr Opin Neurobiol. 2002;12(2):195-204.
Sakai K, Rowe JB, Passingham RE. Active maintenance in prefrontal area 46 creates distractor-resistant memory.Nat Neurosci. 2002;5(5):479-84.

Kontaktadresse:
PD Dr. med. Harald Gündel
Institut und Poliklinik für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Medizinische Psychologie, TU München
Klinikum rechts der Isar
Langerstr. 3
D – 81675 München
Tel.: 089 / 41 40 43 16
Fax: 089 / 41 40 48 45
E-Mail: H.Guendel@lrz.tu-muenchen.de



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