Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur und Traditionelle Chinesische Medizin e.V.

Interview mit Professor Unschuld am 25. Mai 2003 in Rothenburg o.d.T.

Helmut Magel:
Herr Professor Unschuld, ich möchte Sie gerne fragen zu Ihren beiden Veröffentlichungen. Einmal zu dem Buch “Was ist Medizin?” und zu dem ersten Band des “Su Wen”, das Sie neu übersetzt haben.

Prof. Paul U. Unschuld:
Fangen wir einmal mit dem Buch “Was ist Medizin?” an. In diesem Buch habe ich die gesamte Ideengeschichte der europäischen und auch der chinesischen Medizin auf der Grundlage der Hypothese untersucht, dass grundlegende Theorien vom Körper, von seinem Kranksein, aber auch von seinen gesunden Funktionen höchstwahrscheinlich nicht durch die Aussagekraft des Körpers selbst legitimiert sein können. Das heißt, dass das Bild, das wir uns vom Körper, von seinen Krankheiten und von seiner Gesundheit und auch von seinen Funktionen machen, dass dieses Bild ein Vorbild haben muß. Dieses Vorbild liegt nicht vor unseren Augen offen im Körper, sondern dieses Vorbild wird uns aus Umständen unserer Umwelt geliefert. Das können ganz reale gesellschaftliche, ökonomische und strukturelle Bedingungen sein.

Beispiele: Die Situation in China nach der Reichseinigung im Jahre 221 v. Chr. Da hat sich grundlegend etwas verändert und es hat sich den Menschen eingeprägt. Die Menschen konnten offenbar gar nicht anders, als dann auch den Körper so zu sehen, wie sich der neue Staat präsentierte. Wenn ich aber sage „Die Menschen“, dann ist das zu weit gegriffen, weil es nur ein Teil der Menschen war, die es für sinnvoll hielten, in einem solchen Staat zu leben, in einem solchen großen Gemeinwesen mit vielen einzelnen Teilstaaten, die nun miteinander verknüpft waren.

Es gab andere, die eine ganz andere Vorstellung hatten, wie die Menschen in Gemeinschaften zusammen leben sollten. Wir können diese andere Gruppe einmal plakativ oder pauschal als Daoisten bezeichnen. Sie wollten eben nicht in einem solchen großen, komplexen Staatswesen leben. Sie waren der Meinung, Harmonie im menschlichen Zusammenleben sei nur dann garantiert, wenn man in kleinen Gemeinden lebt, in denen es möglichst keine Schrift gibt, in denen es möglichst wenig Verkehr mit der Außenwelt gibt, in dem die Menschen auf sich selbst gestellt sind und ein einfaches Leben haben. So etwas hat es in China nie gegeben, aber die Menschen, die diese Vorstellung hatten, haben diese Vorstellung eines idealen gesellschaftlichen Zusammenlebens auch auf ihre Vorstellungen vom Körper, wie er in gesunden und kranken Tagen ist, wie man aus der Krise zurückkommt zur Harmonie, wie man also aus der Krankheit zurückkommt in die Gesundheit, übertragen.

Das heißt, bei den einen war das Vorbild in der realen Umwelt und bei den anderen war das Vorbild für den Körper in einer Sehnsucht, wie es sein sollte in einer Gesellschaft, die sie sich wünschten, die sie aber nicht einrichten konnten.

Andere Vorbilder sind vielleicht in unseren Ängsten zu sehen, dass wir uns durch ganz bestimmte Dinge bedroht fühlen und dass wir die Bedrohung, die unsere Gesellschaft oder insgesamt unser Leben beeinflusst, dass wir die auch auf unseren eigenen Körper projezieren. Als ein Beispiel aus der Gegenwart ließe sich anführen, dass viele Menschen Ängste haben, wenn sie die Katastrophenmeldungen lesen, wie die Chemie, die Physik, die Technologie in die Lebensgrundlagen eindringen. Dass sie das dann auch für ihren Körper als relevant ansehen und von daher eine Furcht entwickeln, Chemie, Physik, Technologie, sei es zur Diagnose, zur Therapie von Krankheiten, auch im täglichen Leben an den Körper heranzulassen und von daher nach Heilsystemen suchen, die eben ohne Chemie, ohne Physik, ohne Technologie auskommen.

Die Grundthese meines Buches lautet also, dass unsere Theorien vom Körper in seinen gesunden und kranken Tagen, und – daraus abgeleitet – unser Umgang mit dem Körper gar nicht aus der Sicht auf den Körper selbst kommen, sondern aus realen oder herbei gewünschten Zuständen oder auch aus unseren Ängsten und Sehnsüchten, die von den Dingen beeinflusst werden, die wir in unserer Umwelt sehen. Diese Vorstellung habe ich hier auf 2500 Jahre europäischer und auf 2000 Jahre chinesischer Medizin übertragen und erstmals die beiden heilkundlichen Denktraditionen in ihrem Gesamtverlauf verglichen.

Die zwei wichtigsten Aussagen sind eben, dass offenbar keine Theorie, weder in der westlichen, noch in der östlichen Tradition, sich ausschließlich durch die realen Morphologien oder Funktionen, soweit wir sie erkennen können, des Körpers legitimiert ist, sondern ihr Vorbild immer zu einem wesentlichen Teil in eben diesen anderen Aspekten haben, die außerhalb des Körpers liegen. Zum zweiten ist die überraschende Erkenntnis, die sich in diesem Buch niederschlägt, dass ungeachtet aller unterschiedlichen kulturellen Bedingungen in China und in Europa merkwürdiger Weise die periodische Entwicklung sowohl der europäischen als auch der Chinesischen Medizin offenbar sehr ähnlichen Takten folgt.

Magel:
Haben Sie dafür eine Erklärung gefunden?

Unschuld:
Nein, es ist mir ein absolutes Rätsel, warum häufig entgegengesetzte Umstände in China und in Europa trotzdem ganz ähnliche Ergebnisse herbeibringen.

Magel:
Was gibt es für eine Erklärung dafür, dass sich ausgerechnet hier in Deutschland oder in Europa oder in der westlichen Welt, Menschen plötzlich mit so einem an sich ja fremden oder fremd erscheinenden System wie der Chinesischen Medizin beschäftigen, statt einfach den Zugriff zu nehmen auf die hiesige, auf die ursprüngliche hier entstandene Heilkunde?

Unschuld :
Das ist ein sehr, sehr komplexes Phänomen, das man nicht mit einer platten Antwort erläutern kann. Man kann sagen, dass die westliche Medizin viele Erfolge hat, aber sie hat auch viele Schwachstellen. Es ist ganz selbstverständlich, dass in dem Moment, in dem aus der eigenen Tradition oder aber aus fremden Kulturen bei uns Angebote vorliegen, es doch mit diesem oder jenem zu versuchen, dass die Menschen auch tatsächlich dahingehen. Das ist aber sicherlich nur ein Aspekt. Es ist viel komplizierter. In „Was ist Medizin“ habe ich diese Frage auf vielen Seiten erörtert. Ich möchte hier nur einen grundlegenden psychologischen Aspekt erwähnen. Zum Beispiel eben dass diese Sichtweise, die wir noch bis in die 50er und 60er Jahre hatten, des stetigen und offenbar auf ewig nicht zu bremsenden Aufstiegs, Fortschritts, auf der Grundlage von Chemie, Physik und moderner Technologie, dass diese Sichtweise einen Knick bekommen hat. In den 60er Jahren durch die Warnungen des Club of Rome, durch die ersten Hinweise auf Gefährdung der Umwelt, auf die Gefährdung unseres Klimas. Ein Teil der Bevölkerung hat einfach Angst bekommen. So kann es nicht weitergehen. In den 50er, 60er Jahren waren Chemie, Physik und Technologie rein positiv besetzt. Für einen Teil der Menschen sind Chemie, Physik und Technologie heute mit Fragezeichen versehen und anderen wiederum machen sie Ängste. Wenn dann Heilkunden aus der eigenen Tradition oder aus anderen Kulturen kommen, die ohne Chemie, Physik und Technologie auskommen, dann ist das attraktiv

...

Literatur:
Unschuld, Paul U.: Was ist Medizin? Westliche und östliche Wege der Heilkunst
(Beck, C. H.), ISBN 3-406-50224-5.
Huang Di Nei Jing Su Wen. Nature, Knowledge, Imagery in an Ancient Chinese Medical Text von P. U. Unschuld ist in Deutschland beziehbar über CYGNUS-Buchversand, Sonnblickstr. 8, 81377 München.



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