Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur und Traditionelle Chinesische Medizin e.V.

Ein alchemistischer Versuch - Was ist was in der Chinesischen Medizin?

von Andreas Noll

Die Tatsache, dass die alte chinesische Heilkunde so, wie wir sie jetzt in unser Kultur- und Medizinsystem transferiert haben, von den drei großen philosophisch-religiösen Theorien Konfuzianismus, Buddhismus und Taoismus entscheidend geprägt wurde, ist inzwischen auch dem glücklichen Empfänger eines A-Diploms der Fachgesellschaften klar geworden. Fortgeschrittenere Adepten dieser fernöstlichen Heilweise wissen vielleicht auch schon, dass das Konstrukt „TCM“ Ergebnis der Zufügung einer weiteren Komponente ist: des dialektischen Materialismus´ unseres Landsmannes Karl Marx sowie der Maotsetung-Ideen, die es vermocht haben tief verwurzelte konfuzianische Traditionen der Chinesen mit dem okcidentalen Gedankengut des 19. Jahrhunderts zu verschmelzen. Wir wissen auch – nicht nur seit Paul U. Unschuld- dass es DIE chinesische Medizin nicht gibt, sondern dass es sich dabei um ein Konglomerat verschiedenster Denkrichtungen aus den letzten zweieinhalb Jahrtausenden handelt...

Der Himmel und die Erde

Die Menschen des chinesischen Altertums fanden sich ebenso wie diejenigen Griechenlands wieder als geprägt durch das Oben und das Unten. Sie standen auf der Erde, lebten von dem, was die „Mutter Erde“ ihnen gab und öffneten sich mit der Atmung für die Umgebung, die nahtlos in den Himmel verfloss. Bei den Griechen wurden diese Beeinflussungen mit Götternamen beschrieben. Uranos – der Himmel- und Gäa –die Erde- taten sich zusammen und erzeugten Chronos, die Zeit[2]. Aus dem Zusammenwirken von Himmel und Erde ergab sich das Leben auf der Erde. Das Wasser des Himmels bewirkte die Fruchtbarkeit der Erde und garantiert somit das Wachstum –also die Entwicklung des Lebenden in einem bestimmten Zeitabschnitt. Solange Himmel und Erde harmonierten, war die Existenz der Menschen garantiert.

Der Himmel markierte mit der zyklischen Wiederkehr der Gestirne die Tage, Monate und Jahre (-szeiten), und somit auch die Lebenszeit. Er bestimmte Leben und Tod, Gegenwart und Vergangenheit.[3] In den Urzeiten der chinesischen Kultur schon wurde daher als Emblem des Himmel der Kreis –ohne Anfang und Ende- gewählt, als das der Erde – abgrenzbar mit Linien- das Quadrat:

Ihre gemeinsame Darstellung besteht aus einem Kreis und einem Achsenkreuz. Der Kreis, nicht endend und immer wiederkehrend steht für die zeitlichen und somit himmlischen Aspekte unseres Daseins. Aspekte, die sich zyklisch wiederholen, wie der Lauf der Sonne und mit ihm der Lauf der Jahreszeiten, der Mondzyklus und auch unser menschliches Entstehen und Vergehen in diesem Kosmos. Das Achsenkreuz hingegen, die Kreuzung zweier Geraden, vier Striche ergebend, stellt Ausdehnung und Begrenztheit der räumlichen, irdischen Ordnung dar. Die Erfassung der Erde und der irdischen Dimensionen über die vier Himmelsrichtungen, die erst möglich wird durch die Kreuzung dieser Linien.[4]

Die Zeit und vor allem die Vergänglichkeit galt es als das Leben definierende und limitierende Instanz zu verstehen und der Umgang mit ihr zu regeln. Wir werden sehen, dass dieses dann als Angelegenheit höchster Priorität die Pflicht des Fürsten war.

Die Ahnen

Die Lebenszeit verstrich, und irgendwann entwich dem Menschen das Leben. Es verschwand das, was den Körper zu einem geliebten, gehassten, verehrten oder verabscheuten Begleiter des eigenen Lebens gemacht hatte. Es verschwand….wohin? Unbegreiflich, dass es völlig verschwunden sein könnte – zeigte doch die Natur, das tägliche Leben, dass aus dem Abgestorbenen immer etwas neues Lebendiges erwuchs. Aus der ruhenden Erde des Winters mit den vermoderten Resten der vorjährigen Bepflanzung kam immer wieder neues Getreide. Das Alte zeigte sich immer wieder als unverzichtbare Grundlage für das Entstehen von Neuem[5]. Und somit entwickelte sich bei der bäuerlichen Bevölkerung der Shang-Dynastie die Vorstellung einer „Existenzgemeinschaft“ von Lebenden und Toten[6]. Die Einflussmöglichkeiten der Verstorbenen verschwanden aus der sichtbaren Welt in die Umwelt, die Natur, sie waren aber nicht desto weniger dennoch präsent und am Schicksal der Lebenden beteiligt.

Schlechtes galt dann als Zeichen der unzureichenden Verehrung der Ahnen. Durch Opfer, Rituale und Verehrung versuchte man ihre Mildtätigkeit und Gerechtigkeit zu erreichen. Voraussetzung hierfür war, dass der Tod eines eben noch das eigene Umfeld prägenden Menschen –anders als im Okcident- nicht als Ablösung, sondern als Transformation betrachtet wurde. Die individuelle Autorität wurde in der unsichtbaren Welt behalten, auch die Verantwortung und Verpflichtung für die noch lebende Sippe. [7]

Die Verstorbenen, die Ahnen stellten für die Lebenden die Brücke aus der Gegenwart heraus her zu den himmlischen Kräften. Unbill wie Dürre, Überschwemmungen, Kälte- oder Hitzeperioden bedrohten die Existenz der Bauerngesellschaft und signalisierten, dass der Himmel –die Natur- den Menschen nicht wohlwollend war. Die Ahnen waren nun eins mit dem Himmel.

Was lag näher als sich der aus ihrer Lebenszeit bekannten und überlieferten Mittler zwischen dem Himmel/Jenseits und dem Diesseits zu bedienen, also sich an die Ahnen zu wenden, wenn der Himmel den Lebenden nicht wohlgesonnen zu sein schien? Wenn Kriege und Mißernten die Existenzgrundlage vernichteten?

In der nächsten Folge:
Es waren die Wu, als „Schamanen“ heute bezeichnete Menschen, die –zumal als Fürsten- in der Lage waren, den Grund der –in der Regel negativen- Beeinflussungen aus dem Reich des Unsichtbaren zu erkunden. Sie konnten die Ahnen befragen, ob die Lebenden sich richtig verhalten haben, ob sie im Einklang mit den himmlischen Kreisläufen ihr Leben lebten. Schildkrötenpanzer wurden dazu benutzt, den Willen der Ahnen und somit des Himmels zu erkunden. Und dann auch die Schafgarbenstengel, deren Gebrauch und Interpretation das Yi Jing dokumentierte.

Anmerkungen:
[1] Evolutionismus: Der von den biologischen Evolutionstheorien (Darwin, Lamarck) beeinflusste soziologische Evolutionismus geht davon aus, dass die menschliche gesellschaftliche wie individuelle Entwicklung nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten verläuft, da jeder Mensch die gleichen immanenten Anlagen trage. Die bestehenden Gesellschaftsform können so auf einer linearen Entwicklungsskala geortet werden. An dessen Spitze stehen häufig die sog. zivilisierten Gesellschaften, die dem Bild der industrialisierten und sozial differenzierten Welt entsprechen. Am Anfang stehen ‘primitive’ Kulturen, die fast vollständig durch die sie umgebende Umwelt determiniert sind. Je nachdem, ob das Kriterium der gesellschaftlichen Enwicklung wirtschaftlich, technisch oder religiös ist, unterschieden die Theoretiker des Evolutionismus verschiedene Entwicklungsstadien: z.B. Wildheit, Barbarei und Zivilisation, Jagd, Tierhaltung und Bodenbau oder Animismus, Polytheismus und Monotheismus. Die Hauptvertreter des Evolutionismus waren Tylor, Frazer, McLennan, Marett und Morgan. Durch das Studium ‘primitver’ Kulturen erhoffte man sich im Übrigen, Aufschluss über die Wurzeln der eigenen Kultur zu erlangen. (nach Fischer 1988: 12-14 und Panoff/Perrin 1975: 97-99)
[2] …und der dann seinen Vater Uranos entmannte… .

[3] Wobei klar sein muss, dass der Begriff „Himmel“ im Verlauf der Geschichte durchaus unterschiedliche Bedeutungen hatte: Von der alles umfassenden vierdimensionalen Umwelt, der Natur, von der in diesem Zusammenhang am ehesten zu sprechen ist, über die Vorstellung eines zweidimensionalen Baldachins, der über die Erde gespannt ist bis hin zu einer gottesähnlichen Bedeutung. Hierauf werde ich später noch einmal zu sprechen kommen. Ähnlich schillernde Vorstellungen finden wir genauso in unserem Sprachgebrauch. Da ist der Himmel mal das „oben“, dann der Ort, in dem Gott zu finden ist, häufig auch einfach das Synonym für ein Leben nach dem Tod u.a.


[4] siehe Marcel Granet: Das chinesische Denken, Suhrkamp, 1985


[5] Das hieraus abgeleitete Kontinuum des Lebens über Generationen hinweg bildete die entscheidende Grundlage chinesischer Kultur. Das Alte wird nicht abgelöst durch neue Errungenschaften, es wird durch sie nicht überflüssig oder gar falsch. Denn die neuen Errungenschaften wurden erst möglich durch das Alte – wie kann denn das Neue richtig und gut sein, wenn das Alte falsch und schlecht ist?

[6] Siehe Paul U. Unschuld „Medizin in China – eine Ideengeschichte“, S. 19 f

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[7] Das System der Ahnenverehrung bedingt dann auch eine über Generationen betriebene Aufrechterhaltung der Normen und Strukturen. Es sind kaum Ausbruchmöglichkeiten und Veränderungen möglich, es handelt sich um ein nahezu geschlossenes verwandschaftsgebundenes System.

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Anschrift des Verfassers:
Andreas A.Noll
1. Vorsitzender der
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