Blätter für klassische Homöopathie

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Klassische Homöopathie

Die große Kraft der „kleinen“ Mittel. – Ein interessanter Fall aus der alten Literatur.

von Bernd Dankert

Auf einer wissenschaftlichen Sitzung des Vereins für Homöopathie am 22. November 1856 wies Dr. V. Meyer, der damalige Herausgeber der „Allgemeinen homöopathischen Zeitung“ kritisch darauf hin, dass die meisten unserer Praktiker ihre Therapie nur auf eine kleine Zahl wohlbekannter Mittel beschränkten und andere weniger bekannte, aber dennoch sehr wirksame Mittel vernachlässigten, wodurch sie sich oft ihrer besten Waffen beraubten.1

Gegen diese sicherlich nicht unberechtigte Kritik lässt sich natürlich einwenden, dass wir in der Praxis unsere chronisch kranken Patienten in erster Linie mit den sogenannten Polychresten behandeln, d.h. mit Mitteln, die ausgiebig geprüft wurden, sich in zahlreichen Fällen chronisch Kranker als heilsam erwiesen haben und über einen breit gestreuten Wirkungsradius verfügen. Gerade der Anfänger läuft Gefahr, sich im „Gestrüpp“ der großen Arzneimittellehren zu „verheddern“, ist er doch noch nicht in der Lage, zwischen häufig und selten angeführten Mitteln zu unterscheiden. Und nicht nur dem Anfänger kann aus diesem Grund nur dringend empfohlen werden zunächst die Hauptmittel zu studieren, bevor er sich in einer Unmenge von sogenannten kleineren Mitteln verzettelt. Ein Jongleur wird – um Sicherheit zu gewinnen – seine Übungen zunächst mit einigen wenigen Kugeln beginnen, und bevor man vielleicht nach jahrelangem Üben mit einer größeren Anzahl von homöopathischen Mitteln jonglieren kann, sollte man sich zunächst mit einer begrenzten Anzahl begnügen

Aus Bequemlichkeit oder Routine dürfen wir uns aber nicht nur auf die – hoffentlich – wohlbekannten und vertrauten Heilwerkzeuge beschränken, denn die Praxis zeigt immer wieder, dass auch „kleine“, weniger bekannte Mittel sich als wahre „Arzneiriesen“ erweisen können. Sollte daher bei der Repertorisation ein entsprechendes Mittel an einer der vorderen Positionen erscheinen, ist es unbedingt ratsam mittels einer guten Arzneimittellehre den Ähnlichkeitsbezug zu den Patientensymptomen zu überprüfen.

Dr. Meyer stellte damals den Fall einer chronisch schwer magenkranken Patientin vor, die mit einem sogenannten kleinen Mittel innerhalb von 6 Wochen geheilt wurde.

Dabei ist es immer wieder beeindruckend und faszinierend über welche hervorragenden Arzneimittelkenntnisse unsere Altvorderen verfügten, und mit welcher Sicherheit sie auch schwere, komplizierte, chronische Fälle heilen konnten – und dies ohne Zuhilfenahme eines ausgeklügelten, computergestützten Repertorisationsprogrammes.

„Eine 32-jährige, sehr heruntergekommene Frau, mit eingefallenem, von schwerem Leiden gezeichnetem Gesicht, grünlicher Gesichtsfarbe und blauen Rändern um die tiefliegenden Augen, suchte wegen eines schon 5 Monate lang bestehenden Magenleidens am 19. August 1856 die Hilfe des Referenten auf

Sehr bald nach dem Genuss, besonders von etwas Festem, bekommt sie Aufstoßen, das oft mehrere Stunden, ja zuweilen sogar die ganze Nacht anhält.

Wasserzusammenlaufen im Mund, heftiges Sodbrennen und endlich Erbrechen des Genossenen.

Einen eigentlichen Magenschmerz klagt sie nicht, wohl aber stellt sich in der Gegend desselben nach dem Essen ein Gefühl von Frösteln ein, das erst nach dem Erbrechen wieder verschwindet.

Der Appetit ist leidlich, der Stuhl hart, sein Abgang verursacht Schmerzen im Rektum, nach dem Stuhlgang ein Zerreißungsgefühl in den Därmen und oftmaliges erneutes Drängen zum Stuhl ohne Erfolg.
Die Periode ist regelmäßig. Sie hat früher – das letzte Mal vor 8 Jahren – dreimal abortiert.

Seit zwei Jahren ein starkes Brennen in der Scheide, durch Gehen, Stehen und Sitzen vermehrt, im Liegen gemindert. Überdies klagt sie noch über kurzen Atem beim Treppensteigen, ohne Husten und einen Zerrungsschmerz zwischen beiden Schultern, der sich bis zum Hinterkopf erstreckt und durch Heben selbst der leichtesten Gegenstände schlimmer wird.

Die Herzgrube war aufgetrieben, die Magengrube hervorstehend. Der Magen selbst fühlte sich etwas gespannt an und an der kleinen Kurvatur schien eine verhärtete Stelle zu sein, die schon beim leisesten Druck empfindlich war.
Leber und Milz waren nicht vergrößert, der Leib war weich und die Perkussion überall tympanitisch.“

An welche Mittel denken wir beim Lesen dieses Falles zuerst?

Natürlich werden wir Nux vomica in Betracht ziehen, vor allem wegen des erfolglosen Stuhldranges. Nehmen wir dann das Kent`sche Repertorium 2 zu Hilfe, finden wir unter der Rubrik „Obstipation mit vergeblichem Stuhldrang“ 159 Mittel, darunter 23 im dritten Grad!

Spätestens angesichts einer solchen Rubrik wird uns wieder einmal unser beschränktes Arzneimittelwissen vor Augen geführt.

Als ausgesprochen sonderliches Symptom fällt uns das Frösteln in der Magengrube auf. Im Kent finden wir unter der kleinen Rubrik „Magen, Empfindungen, Kälte – Frösteln in der Magengrube“ neben vier einwertigen Mitteln Arsenicum album im dritten Grad. In Verbindung mit den brennenden Genitalschmerzen und dem eingefallenen und leidenden Gesichtsausdruck könnte Arsen das passende Mittel sein. Verunsichert werden wir durch die nur eine Zeile höher stehende und noch treffendere Rubrik „Magen, Kälte nach dem Essen“, in welcher nun vier Mittel angeführt sind, unter anderen Carbo vegetabilis im zweiten Grad, Arsen hingegen nicht. Auch Carbo könnte seiner Natur nach auf unseren Fall zutreffen.

Übrigens zu Ihrer Orientierung, keines dieser drei Mittel wurden von Dr. Meyer als Heilmittel eingesetzt!

Unser therapeutisches Denken und Handeln ist zu stereotyp auf Schlagworte oder Leitsymptome eingefahren, was durchaus verständlich ist, denn kein Mensch kann die Fülle der Arzneimittelsymptome in seinem Gedächtnis speichern.

Die meisten Krankheitgeschehen bilden ein Mosaik aus vielen und vielerlei Symptomen und nur das Gesamtmosaik, nicht aber das einzeln Teilsymptom wird uns zum Simile führen.

Ohne Repertorium lässt sich dieser komplexe Fall nicht lösen, es sei denn wir verfügten über phänomenale Arzneimittelkenntnisse. Bescheiden wir uns also mit unseren mehr oder weniger ordentlichen Kenntnissen und führen eine Hand- oder noch sicherer eine Computerrepertorisation durch. Neben 11 ordentlichen Hauptsymptomen (auf dem Computerausdruck mit einem „H“ sichtbar gemacht), finden wir 7 durchaus sonderliche Symptome (mit einem „S“ gekennzeichnet). Auf verwertbare Geistes- und Gemütssymptome müssen wir – wie so oft – auch in diesem Fall verzichten. Wie zu erwarten, führen Arsen und Sulfur die Liste der potentiellen Arzneien an. Ein einziges Mittel geht mit Ausnahme des wässrigen Aufstoßens durch alle Rubriken hindurch, zum Teil nur einwertig und infolgedessen auch erst an neunter Position. Hatte etwa die gemeine Berberitze dieser schwer magenkranke Patientin Heilung bringen können?

Sehen wir uns Berberis vulgaris in einer ausführlicheren Arzneimittellehre an, wird die Mittelwahl bestätigt. 3

...

Literatur:
1 Allgemeine homöopathische Zeitung, Bd. 53, Seite 176, Leipzig 1857, Hrsg.: Mayer, V.
2 Kents Repertorium, Band 1-3, Heidelberg 1991
3 Der neue Clarke, Bd. 2, Verlag Stefanovic, Bielefeld 1991

Anschrift des Verfassers:
Bernd Dankert
Pfarrhofstr. 6
88662 Überlingen



weiter ... (für Abonnenten der Naturheilpraxis)


Zum Inhaltsverzeichnis 10/2003

Naturheilpraxis 10/2003