Chinesische Medizin aus den Klassikern:

Nüke Baiwen – 100 Fragen zur Frauenheilkunde

von Udo Lorenzen

„Das Betrachten von Essenz und Blut ist mehr als die Hälfte von dem,
was in der Frauenheilkunde zu bedenken ist!“

Qi Zhongfu

Einführung:

In dieser Kolumne möchte ich darin fortfahren, ausgewählte Kapitel aus klassischen chinesischen Medizintexten zu übersetzen. 10 Jahre sind vergangen, seitdem ich erstmals meine Interpretationen zu einigen Klassikern vorgestellt habe. Hier besonders in der Volksheilkunde, wo im Heft 6/92 diese Kolumne begann. Später, besonders in Kooperation mit dem Kollegen Andreas Noll, wurden die klassischen Texte dahingehend ausgewertet, die wirklichen Essenzen der Wandlungsphasen Wuxing?? herauszuarbeiten, damit der Geist der chinesischen Medizin nicht in der TCM erstarre.1

Die chinesische Medizin umfasst ein weites Spektrum von Ideen und Anwendungen zur Krankheitsbewältigung und Gesundheitsfürsorge. Historisch gewachsen in beinahe 3000 Jahren stellt sie sich dar als ein heterogenes Gemisch verschiedener Denkmodelle, Schulen und Traditionen. Jede Epoche prägte die chinesische Medizin mit eigenen Ideen, jede Dynastie interpretierte die klassischen Texte wie das Neijing, Nanjing und Shanghan Lun anders und führte Neuerungen ein. Die mehr am Schamanen orientierte Volksmedizin stand häufig gleichberechtigt neben der Medizin der systematischen Entsprechungen der konfuzianischen Gelehrten. 2

Wenn wir heute mit der traditionellen chinesischen Medizin konfrontiert (TCM) werden, stellen wir fest, dass viele klassische Konzepte nur noch einen untergeordneten Stellenwert haben, ja sogar völlig fehlen.3

Im Vordergrund der TCM steht die Unterscheidung von Pattern („Mustern“), die sich aus der Summe von vergleichbaren Symptomen zusammensetzen; man spricht auch von Syndromdiagnostik und –therapie. Der chinesische Terminus dafür heißt Bian-zheng Lunzhi ???? und bedeutet soviel wie Unterscheidung der Krankheitszeichen und Diskussion ihrer Behandlung.

Man differenziert verschiedene Verfahren zur Einordnung und Katalogisierung von Krankheitsbildern und deren Therapie. Die Krankheit wird analysiert (das allgemeinste Raster sind die acht Leitkriterien Bagang ??), der kranke Mensch erscheint standardisiert und in ein Schema gepresst.

Auch wenn dieser »Pattern-Drill« unserem westlichen Denken entgegenkommt und chinesische Medizin damit lehr- und lernbar macht, ist ein solcher Zugang zur chinesischen Medizin nur die halbe Wahrheit. Es besteht die Gefahr, dass wichtige Konzepte und Informationen für die Behandlung unserer westlichen Patienten verloren gehen. Die Praxis zeigt, dass kaum ein Patient problemlos in ein solches Krankheitsmuster hineinpasst. Psycho-soziale Faktoren, kosmologische und astrologische Einflüsse werden von der TCM nicht erfasst bzw. zu schematisch dargestellt.

Man muss sich außerdem darüber im klaren sein, dass die moderne Traditionelle Chinesische Medizin Ausdruck der herrschenden Ideologie in China war und ist: Die TCM ist ein relativ neues Produkt der Volksrepublik China, die 1949 die Vereinheitlichung und Vereinfachung der vielen traditionellen Schulen anstrebte, um die Gesundheitsfürsorge für die Volksmassen zu gewährleisten. Auch musste die TCM sich auf einem westlichen Gesundheitsmarkt behaupten, der eher misstrauisch dem „orientalischen Exotentum“ gegenüberstand und klare naturwissenschaftliche Aussagen verlangte.

Die Führungsspitze Chinas traf eine selektive Auswahl hinsichtlich der klassischen Texte sowie der führenden Autoritäten und Praktiker der Medizin. Im Vordergrund der Auswahlkriterien standen sowohl pragmatische als auch ideologische Erwägungen. Alle Richtungen, Schulen und Familientraditionen, die von diesem standardisierten Modell zu sehr abwichen, wurden nicht erfasst, ihre Verfechter wurden sogar in der Kulturrevolution verfolgt und eingesperrt.4

Hier wurde die chinesische Medizin ein Politikum ersten Ranges.5 Derart »gesäubert« ist die TCM auch heute noch zwar ein logisches und widerspruchsfreies Modell, das sich relativ leicht erlernen lässt, aber sehr viel schwerer anzuwenden ist. Für die Praxis erscheint sie oft nicht ausreichend.

Diese Kolumne, die in unregelmäßigen Abständen erscheinen soll, möchte einige dieser Lücken schließen und Chinesische Medizin aus den Klassikern vermitteln. Die Übersetzung ist sinologisch möglichst korrekt, der Kommentar ist erklärend und erhellend und macht den klassischen Text für die Praxis verwendbar.

Wer sich einmal an die Übersetzung eines klassischen chinesischen Textes gewagt hat, weiß, wie schwierig eine sinnvolle und trotzdem korrekte Übersetzung ist. Oft müssen Wörter ergänzt werden, um den Sinn der Aussage verständlich zu machen6, auch ist die altchinesische Grammatik in ihrer Struktur nicht eindeutig und lässt häufig mehrere Übersetzungen zu.

Schließlich haben viele Schriftzeichen sowohl eine allgemeine Bedeutung als auch eine spezifisch medizinische, die in den verschiedenen Zeitepochen ebenfalls unterschiedlich sein kann. Dies eingedenk sind die Übersetzungen dieser Kolumne niemals absolute Wahrheiten sondern bieten den Raum für mögliche andere Interpretationen der Übersetzung.

Geschichtlicher Abriss der chinesischen Frauenheilkunde:

Der Text Nüke Baiwen????

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1 U. Lorenzen/A. Noll: Die Wandlungsphasen der traditionellen chinesischen Medizin, Band 1-5, Verlag Müller & Steinicke (1992-2002)
vgl. P. Unschuld: Medicine in China – A History of Ideas, California Press, 1985
Ich denke hier besonders an die geistigen Aspekte (Shen, Hun, Po, Yi, Zhi), an die Orakel- und Dämonenmedizin sowie an die volle Ausschöpfung der Entsprechungslehre.
vgl. B. Flaws: Thoughts an Acupuncture, Internal Medicine an TCM in the West, in: The Journal of Chinese Medicine, No. 38, 1, 1992
Obgleich der restriktive Umgang mit anderen Ideen in China in den letzten 10 Jahren deutlich gelockert wurde und Konzepte wie z. B. die Chronoakupunktur oder Qigong-Praktiken wieder hoffähig geworden sind.
In den Übersetzungen immer mit Klammern (...) kenntlich gemacht.
vergl. Unschuld, P, 1985, a.a.O. 160 ff.
Rall, J. Die vier großen Medizinschulen der Mongolenzeit S. 18 f., Wiesbaden, 1970
vergl. Kleist-Dobos, K. Wahrnehmung des weiblichen Körpers und dessen Störungen nach einem gynäkologischen Handbuch der Song-Zeit, Magisterarbeit der philosophischen Fakultät Freiburg, ohne Jahresangabe
Vergl. auch: Kleist-Dobos, K., ebenda
nach dem Zhongyi Renming Cidian, einem Wörterbuch berühmter chinesischer Ärzte, Beijing, 1988 (chinesischer Text)
U. Lorenzen/A. Noll: Die Wandlungsphasen der traditionellen chinesischen Medizin, Band 1-5, Verlag Müller & Steinicke (1992-2002)
2 vgl. P. Unschuld: Medicine in China – A History of Ideas, California Press, 1985
3 Ich denke hier besonders an die geistigen Aspekte (Shen, Hun, Po, Yi, Zhi), an die Orakel- und Dämonenmedizin sowie an die volle Ausschöpfung der Entsprechungslehre.
4 vgl. B. Flaws: Thoughts an Acupuncture, Internal Medicine an TCM in the West, in: The Journal of Chinese Medicine, No. 38, 1, 1992
5 Obgleich der restriktive Umgang mit anderen Ideen in China in den letzten 10 Jahren deutlich gelockert wurde und Konzepte wie z. B. die Chronoakupunktur oder Qigong-Praktiken wieder hoffähig geworden sind
6 In den Übersetzungen immer mit Klammern (...) kenntlich gemacht.

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Anschrift des Verfassers:
Udo Lorenzen
Projensdorfer Str. 14
24106 Kiel
0431 – 33 03 03
E-Mail: u.lorenzen@ki.comcity.de
Web: www.zhenjiu.de



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