Blätter für klassische Homöopathie

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Klassische Homöopathie

Der Fall Berbère oder: ein homöopathischer Krimi

von Ulrich Pleines

Bei dem Patienten handelt es sich um einen zweieinhalbjährigen Maine-Coone Kater namens Berbère, kastriert, black tabby. Er wohnte noch keine drei Monate bei mir. Er hatte ein sehr scheues, ängstliches, schreckhaftes Wesen; besonders Männern gegenüber war er sehr furchtsam. Ich hatte ihn deswegen mit Pulsatilla sowie darauf folgend mit Lac felinum (Leitsymptom: Verlangen nach Papier, meine Bücher tragen deutliche Spuren!) behandelt und es zeigten sich erste, erfreuliche Fortschritte. Am liebsten lag Berbère an einem stillen Platz im Garten und genoss seine neue Freiheit, denn er war bislang ein "Wohnungskater" gewesen. Er kannte weder Gras noch Bäume, geschweige denn Mäuse oder was man alles damit anfangen kann!

Diese Krankengeschichte beginnt am 26.07.2001. Es war ein sehr heißer Tag, brütende Hitze. Bei mir waren drei Gäste, was für Berbère einen enormen Stressfaktor bedeutete. Deshalb fiel es auch gar nicht besonders auf, dass er nur apathisch im Garten lag, und zwar überwiegend in der knallig heißen Sonne, seltener mal kurz im Schatten. Abends verweigerte er das Futter, er spielte nicht, sondern ließ sich von einem kleineren Kater (zehn Wochen alt) ärgern, was er vorher nie zugelassen hatte. Zu diesem Zeitpunkt führte ich dies alles auf den Besuch sowie die ungewohnte Hitze zurück.

Am Morgen des folgenden Tages wollte er immer noch nicht fressen, so dass ich langsam aufmerksam wurde. Normalerweise ließ er keine Mahlzeit aus, einen so wichtigen Termin nahm er immer wahr. Berbère war teilnahmslos bis apathisch und hatte eine warme, trockene Nase (Hinweis auf Fieber). Ginger, dem kleinen Kater, ging es allerdings unverändert gut. Immer noch versuchte ich, mir den Zustand Berbère's mit den ungewohnten Bedingungen zu erklären und überlegte, dass er möglicherweise aus Protest gegen den Besuch, der einen Aufmerksamkeitsverlust für ihn bedeutete, mit Krankheit reagierte. Man muss dazu wissen, dass Maine-Coone Katzen sehr liebesbedürftig sind und sie ihre Streicheleinheiten zum Teil richtig aggressiv einfordern.

Am 28.07. war der kleine Ginger immer noch wohlauf. Bei Berbère fielen mir weitere Symptome wie folgt auf: die Nickhaut beidseits (d.h. das zusätzliche dritte Augenlid) war gerötet und geschwollen, fiel vor die Augen. Die Augenabsonderung war vermehrt, mal schleimig, mal schwärzlich eingedickt. Er war sehr durstig.

Aufgrund der unklaren Symptomatik und der weiterhin bestehenden Inappetenz konsultierte ich einen Tierarzt. Dort wurde folgender Befund erhoben:
Temperatur 41,2°C rectal (auch für eine Katze bedeutet dies hohes Fieber; Normaltemperatur bis 39,5°C)
Augen wie oben beschrieben entzündet.
Zahnfleisch am Zahnrand rot entzündet, mit schwarzen Punkten übersät. Er sträubt sich heftig gegen das Maulöffnen.
Die Zunge war violett-schwärzlich verfärbt.
Es bestand eine Gangunsicherheit, die sich bald in Hinken, bald in Schwanken äußerte, als ob die Beine den Dienst aus Schwäche verweigerten.
Ohren ohne pathologischen Befund.
Keine Diarrhoe, kein Erbrechen.
Abdomen weich, keine Resistenzen, keine Druckdolenz.
Blase und After ohne pathologischen Befund.
Er hustete von Zeit zu Zeit krampfhaft, fast würgend, was allerdings bei einem Langhaarkater nichts Besonderes bedeuten muss, da bei der Fellpflege eine Unmenge Haare verschluckt werden, die manchmal nur schwer verdaut oder erbrochen werden können. (Durch das Fressen von Gras unterstützen Katzen die Ausscheidung von verschluckten Haaren.)
Auskultation der Lunge ohne pathologischen Befund.

Als Verdachtsdiagnose wurde Infektion unklarer Genese gestellt sowie eine antipyretische und antibiotische Therapie mit Cleorobe 75 mg 1x täglich begonnen. Dieses Medikament wurde noch am selben Tag verabreicht. Die Prognose der Tierärztin war, dass sich recht schnell (d.h. innerhalb von 24 Stunden) eine deutliche Besserung einstellen sollte.
Am Morgen des nächsten Tages (29.07.) war keine Veränderung des Zustands zu beobachten. Der Kater erbrach sich eine halbe Stunde nach der Verabreichung des Antibiotikums (schaumig, wässrig, mit vielen Haaren). Es wurde nun von meiner Seite Mercurius C30 DHU 1 Globulus verabreicht (unspezifisch inflammatorisch).

Am 30.07. wirkte er etwas wacher (5%), hat eine winzige Menge einer Leckerei gefressen. Die Nase war weiterhin warm und trocken, es trat jetzt leicht vermehrter Speichelfluss auf. Eine Folge des Mercurius? In jedem Fall hatte Mercurius nicht die gewünschte Besserung gebracht.

Der nächste Tag brachte keine Veränderung des Zustands. Dem kleinen Ginger ging es weiterhin gut, er zeigte keinerlei Krankheitszeichen. Auch mein Besuch war inzwischen abgereist. Was war das nur für eine seltsame Infektion?
Gegen Abend bemerkte ich, dass Berbère sich immer wieder und auffallend häufig leckte, und zwar an einer Stelle "links hinten" über dem linken Hüftgelenk, die man nicht berühren durfte; er war dort äußerst schmerzempfindlich. Wegen des dichten Fellkleides konnte ich nichts, z.B. eine Verletzung, erkennen.

Der 01.08. brachte mir eine überraschende Entdeckung, die mir die Lösung des Falles bringen sollte, der bis dahin doch sehr undurchsichtig und unklar war. Meine Frau machte mich auf ein ungewöhnliches Geräusch im Keller unseres Hauses aufmerksam. Es war ein regelmäßiges, unterbrochenes, helles Stöhnen und schien unter einer Euro-Palette, auf der Brennholz gestapelt war, herzukommen. Da es zu dunkel war, um irgend etwas zu erkennen, holte ich eine Taschenlampe und leuchtete unter die Palette. Was ich dort sah, ließ mir die Haare zu Berge stehen und jagte mir eiskalte Schauer über den Rücken. Ich sah – eine Kröte. Diese steckte jedoch bereits mit dem Hinterteil voran zur Hälfte im Rachen einer Schlange! Die schrecklichen Töne waren wohl das letzte, was diese Kröte von sich geben würde. Nach kurzer Beratschlagung packte ich meine alten Motorradhandschuhe mit langer Stulpe aus, ergriff die Schlange und beförderte sie rasch in einen Eimer, den ich verschloss. Die Schlange setzte ich kurz später in der Nähe an einem Teich aus. Dabei hatte ich Gelegenheit, sie mir etwas genauer zu betrachten. Mit Hilfe eines Kosmos-Naturführers konnte ich sie eindeutig als Kreuzotter identifizieren. Zusammen mit der Beobachtung vom Vortag kam mir der Verdacht, dass mein lieber Berbère, der ein ungeübter Jäger war, von der Schlange gebissen worden sein konnte. Seine Symptome mussten die Symptome der Intoxikation mit dem Kreuzottergift sein! Ein Vergleich mit der Arzneimittellehre bestätigte dies.

Obwohl ich keine Bisswunde finden, sondern nur vermuten konnte, wertete ich den Schlangenbiss als sichere Causa. Das Synthesis-Repertorium führt in der Rubrik "Allgemeines – Wunden – Bisswunden giftiger Tiere", die dieser Causa entspricht, nur ein Mittel dreiwertig: Ledum. So hoffte ich, endlich eine adäquate Therapie einleiten zu können. Ich löste einen Globulus Ledum C30 DHU in 1 ml Wasser auf und verabreichte dem Kater davon die Hälfte. Nach vier Stunden hat er dann ein wenig gefressen. Da es mittlerweile Abend war, wiederholte ich die Gabe leicht modifiziert.

Als ich am nächsten Morgen die Schlafzimmertüre öffnete, kam mir Berbère fröhlich entgegen, begrüßte mich wie gewohnt und verlangte energisch nach Futter. Er verschlang eine riesige Portion sowie weitere eben so große im Tagesverlauf. Als weiteres, sicheres Zeichen der fortschreitenden Genesung trat wieder ein spärlicher Flohbefall auf, den ich bis dahin noch nicht in den Griff bekommen hatte (Flöhe stechen nicht, wenn der Wirt krank ist.). Es war keine weitere Gabe nötig, die Besserung hielt an und endete in Gesundheit. Lediglich seine linke Hüfte war noch ungefähr eine Woche lang berührungsempfindlich.

Repertorisation siehe Naturheilpraxis 12/2002

Im Nachhinein, mit klarem Kopf, repertorisierte ich den Fall (Computerrepertorisation von Stephan Wegner). Aufgrund dieses Ergebnisses und dem Vergleich mit der Arzneimittellehre wäre womöglich Arsenicum album die homöopathischere Wahl, wahrscheinlich sogar das Similimum, gewesen.

Der Fall beweist jedoch eindrucksvoll, wie wichtig auf der einen Seite eine gute und sichere Causa ist und auf der anderen Seite, wie rasch und sicher ein Arzneimittel mit einer gesicherten Causa und erprobten Indikation die Wiederherstellung der Gesundheit zu Wege bringt.

Hahnemann schreibt im Organon, 6. Auflage, § 93:

"Ist die Krankheit seit Kurzem, oder bei einem langwierigen Uebel, vor längerer Zeit durch ein merkwürdiges Ereignis verursacht worden, so wird der Kranke – oder wenigstens die im Geheim befragten Angehörigen – es schon angeben, entweder von selbst und aus eignem Triebe oder auf eine behutsame Erkundigung."

Im "Fall Berbère" passte beides: sowohl das merkwürdige Ereignis als auch die (gezwungenermaßen) behutsame Erkundigung!

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Quellenangabe:
Synthesis-Repertorium
Comrep-Computerrepertorisation (erstellt von Stephan Wegner, vielen Dank!)

Anschrift des Verfassers:
Ulrich Pleines
5, rue des Primevères
F – 68600 Geiswasser
Tel + Fax (0033) 03 89 72 37 15
E-Mail: ules@tiscali.fr



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