FACHFORUM

Der Kräutergarten des Klosters Reichenau

Über den Hortulus des Mönches Walahfrid Strabo im 9. Jahrhundert

von Josef Karl

Bezeichnung, Urtinkturen und Dilutionen

Zwischen 830 und 840 schuf der Reichenauer Mönch Walahfrid Strabo (Abt von 842 – 849) das Lehrgedicht "De cultura hortorum", kurz "HORTULUS" (Gärtlein) genannt, über den Kräutergarten des Inselklosters. Der "HORTULUS" ist die erste Kunde vom Gartenbau in Deutschland. In 444 Versen werden 24 Heilkräuter, Küchen- und Zierpflanzen beschrieben, die noch heute die Gärten bereichern.

Der Wanderbischof Pirmin wusste, warum er im Jahre 724 nach Christus ausgerechnet auf der damals noch unwirtlichen Insel im Untersee sein Lager aufschlug und hier ein Kloster gründete. Dieses erlebte über drei Jahrhunderte eine außergewöhnliche Blütezeit. Noch heute zeugen die prächtigen Kirchen von dieser "Wiege abendländischer Kultur". Mit der "Reichen Au", mit ihrem fruchtbaren Boden und den ebenso reichen, sie umgebenden Fischgründen haben die Inselbewohner über die Jahrhunderte ein Kleinod geschaffen. Heute ist die größte Insel im Bodensee Erholungsort und berühmt für ihre historischen Bauwerke, für frisches Gemüse, Salate und die Weinreben, die Dank des milden Klimas hier gedeihen. Verständlich, dass sich Tausende Vögel aus ganz Europa das angrenzende Wollmatinger Ried, eines der größten Naturschutzgebiete Deutschlands, als Rastplatz auf dem langen Weg nach Süden aussuchen. Und diese begnadete Natur- und Kulturlandschaft ist seit neuestem "Weltkulturerbe" und steht damit unter besonderem Schutz.

Es gibt zahlreiche und ausführliche Literatur über die berühmten 444 Verse, die der Abt Strabo den 24 Pflanzen seines Klostergartens, selbstredend in lateinischer Sprache, gewidmet hat. Das soll also nicht der primäre Aspekt dieses Beitrags sein; vielmehr werden die Pflanzen – die auch heute noch dort wohlgeordnet zu schauen sind – in ihrer jetzigen Bedeutung gewürdigt. Es interessiert ihre gegenwärtige Indikation, auch unter dem Aspekt der Monographien. Schließlich ist es außerordentlich interessant, wie über elfhundert Jahre sich Wissen nicht nur erhielt, sondern ein Teil der Pflanzen sehr wohl den heute gültigen naturwissenschaftlichen Kriterien standhält, quasi altes Wissen neu bestätigt wird.

Die lyrischen Verse des Abts Strabo dürfen also keineswegs nur in die Rubrik "Gedichte" eingereiht werden – es handelt sich vielmehr um botanisches und therapeutisches Wissen in Versform. Alle Autoren/-innen betonen die präzise Beobachtungsgabe des Mönchs. In den Indikationen, wofür er kein Fachmann war (weder Arzt noch Apotheker), stützt er sich auf antike Quellen: den Römer Cassiodor (um 500 n. Chr.) Dioscorides, Galen und auch Hippokrates. Zu betonen ist, dass die Anlage des Kräutergartens mehrere Gründe hatte: die Klöster waren im Mittelalter häufig zuständig für Heilbehandlung und gleichzeitig auch hatten sie apothekenähnliche Bedeutung sowohl für die Mönche als auch für die Bevölkerung. Zum anderen waren Klöster auf Autarkie angelegt, d.h. sie sollten möglichst selbstständig und unabhängig von außen sein – besonders die Benediktinerklöster lebten nach der Regel "ora et labora", "bete und arbeite", des HI. Benedikt. Auch heute haben sie noch Landwirtschaft wie z.B. Benediktbeuern in Oberbayern.

Der Klostergarten des Münsters und die bedeutende romanische Anlage war nicht zuletzt auch für die Küche von Wichtigkeit: Kürbis, Melone, Fenchel, Sellerie und Rettich waren zusammen mit dem Obst- und Gemüseanbau eine Bereicherung des Speisezettels der Mönche.

Die vorstehende Übersichts-Liste (siehe Naturheilpraxis 12/2002) wurde von Herrn Apotheker K. Eschenlohr (Fa. Steierl Pharma) ausgearbeitet.

zu 7: Der Name "Minze" ist irreführend: es handelt sich um eine Korbblütler-Pflanze, zwar mit Mentholgeruch, jedoch eine Chrysanthemenart – während Minzen bekanntlich Lippenblütler sind.
zu 8: In unseren Breiten Melonen zur Ausreifung zu bringen, ist nicht selbstverständlich, auch nicht in der klimabegünstigten Region am Bodensee (wo wir ja wissen, dass beispielsweise auf der Insel Mainau erstaunlich viel Südländisches gedeiht!). An einem geschützten Steinmauern-Platz war es offensichtlich möglich. Und man geht auch davon aus, dass zu der damaligen Zeit es vorübergehend etwas wärmer war.
zu 10: Iris germanica, die blassblaue Spezies, nach wie vor verbreitet, war die Wurzel für Säuglinge als Zahnungshilfe. Man hängte sie den Kindern an einer Schnur um den Hals und ließ sie an der veilchenartig schmeckenden Wurzel kauen.
zu 11: Der Flaschenkürbis ist nicht zu verwechseln mit dem überall bei uns wachsenden Gartenkürbis, Cucurbita pepo. Ähnlich wie bei der Melone erstaunt es auch beim Flaschenkürbis, dass diese wärmeliebende Pflanze gedieh.
zu 13: Auch Muttergotteslilie genannt, stand diese große Symbolpflanze neben der Rose im Mittelpunkt des Gartens. Der Verkündigungsengel Gabriel trägt sie auf unzähligen gotischen Tafelbildern Maria an.
zu 15: Die Poleiminze war einige Zeit als Emmenagogum gebräuchlich und im HAB aufgeführt. Auch in meiner "Phytotherapie" von 1970 (vergriffen) zählte ich sie noch auf. Die Heimat der Pflanze ist Indien.
zu 17: Die Katzenminze wird heute kaum noch kultiviert. Ihr Geruch zieht (ähnlich wie der vom Baldrian) Katzen an, darum der deutsche Name.
zu 18: Strabo preist die Samen; die spezielle Wirkung des Saftes der unreifen Samenkapseln (Rohopium) kommt in unserem Klima nicht zur Geltung.
zu 20: Der Rose schließlich widmet der Abt das längste Gedicht. Wie bei der Weißen Lilie handelt es sich um eine christliche Symbolpflanze erster Ordnung.
zu 24: Stachys betonica (= officinalis) war früher in der Phytotherapie ein Expektorans; in der Homöopathie ist sie mit dem Symptom "Oberbauchschmerzen" versehen. Der relativ hohe Gerbstoffgehalt gab dieser Pflanze auch bei der Wundbehandlung einen Wert, so schon Walahfrid Strabo: "Wenn außerdem der Kopf in gefährlicher Wunde klafft, soll man Heilziert auflegen..." Während ihm Hildegard von Bingen auch magische Bedeutung beimisst (gegen leidenschaftliche Betörung, Vorspielungen und teuflische Einflüsse), fehlt dieser Aspekt, der sich in der Pflanzenheilkunde vom Altertum über das Mittelalter bis in unsere neuste Zeit(!) durchzieht, fast gänzlich. Strabos Betrachtungen bleiben nüchtern.

...

Anm.:
(Am 4. Mai dieses Jahres lud die Fa. Steierl-Pharma GmbH, 82207 Herrsching zu einer Besichtigung des Reichenauer Klostergartens ein und es kamen über 70 Kollegen/innen. H. Apotheker Eugen Eschenlohr von der Firma und ich stellten Dias der Pflanzen vor und ihre heutige Bedeutung in der Phytho- und Homöopathie. Hr. Eschenlohr hat die Vergleichstabellen ausgearbeitet, die bei der Fa. Steierl angefordert werden können).

Literatur:
1. Der Hortulus des Walahfrid Strabo Text von H.-D. Stoffler; Hrsg. Kulturamt der Gemeinde Reichenau 1999 (Broschüre)
2. Buch desselben Verfassers mit demselben Titel im Jan Thorbecke Verlag, Sigmaringen 1985
3. Der Apothekengarten von Dr. A. Schenk; Vehling – Verlag Berlin, Basel, Graz

Anschrift der Verfasser:
Eugen Eschenlohr
Apotheker
c/o Fa. Steierl GmbH
Mühlfelder Str. 48
82207 Herrsching

Josef Karl
Heilpraktiker
Alpenstr. 25
82377 Penzberg



weiter ... (für Abonnenten der Naturheilpraxis)


Zum Inhaltsverzeichnis 12/2002

Naturheilpraxis 12/2002