1970

Vom scheinbaren Niedergang der Phytotherapie und ihrer geheimen Auferstehung

von Josef Karl

In dem Artikel aus 1970 konnte Josef Karl noch nicht ahnen, dass er mit genau diesem Problem jahrelang in der Kommission E würde konfrontiert werden. Seine Ausführungen besitzen ungebrochene Aktualität. Der Zusammenbruch eines vielfältigen naturarzneilichen Kombinationsmittelmarktes scheint Realität zu werden. Die Fronten sind verhärteter denn je.


Im Folgenden soll über die Lage der Phytotherapie in Deutschland berichtet, einige Dinge klar benannt und analysiert werden. Ausgehend von der gegenwärtigen Situation (I) sollen vermutliche futurologische Tendenzen (II) umrissen werden.

I.

In fünf Punkten sehe ich die hauptsächlichen Gründe dafür, daß die Phytotherapie in jene Agonie sank, in der sie seit Jahren liegt und die als Ausgangspunkt der Genesung angenommen werden muß.

1. Es scheint zur Kurzsichtigkeit der menschlichen Natur zu gehören, daß im Begeisterungstaumel von Entdeckungen die Basis des bisher Bestehenden vergessen, wenn nicht sogar verleugnet wird. Besonders kraß zeigt sich dieses Phänomen am Beispiel der Kleidermodediktatur, wo auf geradezu unheimliche Weise offensichtlich wird, wie von einem Augenblick zum anderen noch heute Hochgepriesenes schon morgen höchster Lächerlichkeit verfällt. Dieser erste und allgemeine Punkt als Ursache für das Vergessen einer Therapieart, die seit Jahrtausenden eine Säule historischer Heilkunst war, ist ein eminenter und scheint auf das engste mit der allgemeinen Tragik der menschlichen Geistesgeschichte verknüpft zu sein. Es ist wohl eine hinzunehmende Tatsache, daß der Mensch im Moment des Heraufkommens eines neuen Kometen den alten, am Horizont versinkenden Stern schnell vergißt. Daran wird sich wohl erst dann etwas ändern, wenn die Kontinuität des menschlichen Bewußtseins konstanter wird und wir aus der Geschichte Lehrformeln ziehen können, anstatt in lebensgefährlicher Weise ständig aufs neue essentielle Erfahrungen zu vergessen und gar zu verleugnen.

2. Der zweite Punkt ist delikater, oberflächlicher und in gewisser Weise deprimierender als der erste. Die Gedächtnislosigkeit des Menschen wurde nämlich wiederum mit dem Heraufziehen des technischen Zeitalters, speziell hier der Sparte Chemie, von einer Clique materialistischer Profitmacher rücksichtslos für ihre Zwecke ausgenützt. Um noch deutlicher zu werden: Die Mafia der chemischen Industrie erkannte schnell, daß aus chemischen Abfallprodukten, aus Steinkohlederivaten und Nebenprodukten der Erdölraffinerien ganze Ketten von Arzneistoffen auf das billigste zu gewinnen sind. Dieser pharmazeutischen Gruppe fehlte es weder an Skrupeln noch an gewissen Werbern, ihre Produkte unter dem alles bergenden Deckmantel "Wissenschaft" an die Leute, sprich Ärzte und Patienten, zu bringen. Gleichzeitig mit der Industrialisierung wurden die Arbeitskräfte rarer und auch qualifizierter, d.h., Menschen, die für geringen Lohn Pflanzen sammeln wollten, waren kaum mehr zu finden. Man sieht eine Art Kettenreaktion von Umständen, bei denen menschliche Belange schnell verschüttet wurden, die Profitsucht Triumphe feierte und Aktienkartelle sich nicht vom Heilwert, sondern dem Gewinnindex leiten ließen, Rendite und Prozentausschüttung höher bewerteten als den wirklichen Nutzen ihrer Produkte. Es ist letztlich nicht einzusehen, daß Pflanzen, die nachweislich jahrtausendelang Nutzen und Wirkung hatten, plötzlich bar jedes Effektes sein sollten. Es ist auch nicht einzusehen, daß die alten Lehrsätze eines HIPPOKRATES und PARACELSUS, die davon ausgingen, daß Nahrung und Heilmittel eine Einheit bilden, daß gegen "jede Krankheit ein Kraut gewachsen" sei, plötzlich jede Gültigkeit verloren hätten.



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Naturheilpraxis 8/2002